Deutsch

Die Wahn-Wache

Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez in deutscher Übersetzung

Wie hängen eine Leiche in einer Sauna und das Plagiat eines Theaterstückes zusammen? Dieser Fall beschäftigt Kommissar Navarrin an seinem letzten Arbeitstag und wächst sich beinahe zu einer handfesten Staatsaffäre aus. Was für ein Theater…

Französischer Originaltitel: « Flagrant Delire »
Übersetzung: Guy Sagnes


Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden.


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Wenn Sie ihn öffentlich darbieten möchten – gleich ob auf einer etablierten Bühne oder in einem Laientheater – müssen Sie die Aufführungsrechte beim Autor einholen: Kontakt


Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (EHESS, Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.
Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französischsprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 100 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt.
Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. Die Rechte für die Bühnenaufführung können / müssen über die Verwertungsgesellschaft SACD erworben werden.


Zum Übersetzer

Guy Sagnes geboren 1967, stammt aus den Cevennen in Südfrankreich. Nach seinem Studium in Montpellier verließ er Frankreich und lebt seit 1987 in Deutschland.
Zwischen 1990 und 2000 agierte er als Regisseur bei dem Jugendtheaterprojekt in Wetzlar. Nach einer Pause nahm er 2007 seine Regiearbeit in Gießen beim Musenkeller Theater Ensemble wieder auf. Jedes Jahr präsentiert er gemeinsam mit dem Ensemble eine neue Produktion auf einer kleinen Bühne.

Premiere / Uraufführung Deutsch Besetzung am 05.11.2022, Grünberger Str. 80 Giessen – Deutschland, Musenkeller Theater Ensemble

 

 

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Strip Poker

Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez in deutscher Übersetzung

Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (EHESS, Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.
Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französischsprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 100 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt.
Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. In Papierform (zum Preis der entsprechenden Fotokopien) können die Texte über die Webseite Amazon bestellt werden. Die Rechte für die Bühnenaufführung können / müssen über die Verwertungsgesellschaft SACD erworben werden.


Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden.


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Strip Poker

Die Nachbarn zum Kennenlernen einladen, kann zu einem gewagten Poker-Spiel werden, bei dem alle ihre Karten auf den Tisch legen müssen…

Personen

Pierre – Marie – Jacques – Céline

© La Comédi@thèque

ERSTER AKT

Marie, blond, ziemlich sexy und gestylt, deckt den Wohnzimmertisch festlich für vier Personen. Ihr Handy klingelt. Sie geht ran.

Marie (liebenswürdig): Ja, hallo…? (genervt) Ah, nein, tut mir leid, Sie sprechen nicht mit Pierre, sondern mit Marie, seiner Frau… Sie haben auf mein Handy angeru­fen… Kann ich ihm etwas ausrichten…? Gut… Nein, nein, ist nicht schlimm…

Sie macht sich wieder an ihre Vorbereitungen, mit leicht aufgedrehter Heiterkeit. Ihr Handy klingelt wieder.

Marie (etwas genervter): Ja, hallo…? (liebenswürdig) Ah, Jérôme, du bist es… Doch, doch, mir geht’s gut… Hab ich dir schon erzählt, dass ich aufgehört hab zu rauchen… ? Naja, seit heute Morgen… Nee, schwanger bin ich nicht, keine Sorge, aber ich war immerhin bei zwei Päckchen am Tag. Ich hab das mal durch­gerechnet. Bei den Zigarettenpreisen kann ich mir in einem Jahr eine Safari in Kenia leisten. Und wenn ich auch nur eine Woche durchhalte, kann ich mir schon eine Metro-Monatskarte für zwei Zonen kaufen. Na jedenfalls hab ich mir von dem, was ich heute schon gespart habe, ein großes Glas Nutella gekauft… (seufzt) Ich hab nicht gedacht, dass es so schwer wird… Aber was soll’s! Inzwischen kannst du ja nicht mal mehr auf dem Friedhof rauchen… Ach, Pierre, dem geht’s gut, wir sind guter Hoffnung… Nee, ich meine, seine Arbeit… Du, ich muss Schluss machen, mein Schweinebraten mit Backpflaumen trocknet gleich aus. Wir hören voneinander, ok? Ciao, ciao.

Marie legt auf, schnuppert und wirft einen besorgten Blick ins Publikum.

Marie: Es riecht nach Gas, oder…?

Sie läuft in die Küche, um ihren Schweinebraten zu versorgen. Pierre, im Intellek­tuel­len-Look, kommt pfeifend rein, Regenmantel über der Schulter, den „Parisien“ unterm Arm. Er hängt den Regenmantel auf, setzt sich auf die Couch und blättert die Zeitung durch. Schlagzeile auf der Titelseite: „Krebs durchs Handy?“ Marie erscheint wieder. Pierre legt die Zeitung hastig zurück auf den Tisch und setzt eine tragische Miene auf.

Marie (vergnügt): Hallo, Süßer!

Pierre (finster): Hallo…

Marie (bemerkt seine Miene): Was issn los?

Pierre: Meinen Job werd ich los…

Marie: Du wirst deinen Job los? Was soll das heißen?

Pierre: Standortverlagerung…

Marie: Au Mist!… Das tut mir echt leid…

Pierre ist nur noch ein Häufchen Unglück.

Pierre (mit Leidensmiene): Sag, dass du mich nicht verlässt!

Marie nimmt ihn in die Arme, um ihn zu trösten.

Marie: Wie kommst du denn auf so was? Ich hab doch Arbeit! Weißt du, was? Ich hab mit dem Rauchen aufgehört. Mit dem, was ich da einspare, könntest du schon fast in Teilzeit arbeiten… Und außerdem: wenn wir den Gürtel enger schnallen müssen, dann werden wir ihn eben enger schnallen. (Hält sich eine Hand auf den Bauch) Ich ess dann auch kein Nutella mehr…

Pierre (lässt nicht locker): Ich will dir nicht auf der Tasche liegen, weißt du… Lieber mache ich dem Ganzen ein Ende…

Marie: Jetzt red doch nicht so einen Käse… Wir sind verheiratet, Pierre! In guten wie in schlechten Zeiten! Die besten Zeiten heben wir uns für den Schluss auf!… Aber das ist schon krass, dass sie euch einfach so verlagern, ohne Vorwarnung.

Pierre: Du weißt doch, bei der Globalisierung heutzutage…

Marie: Trotzdem!… Die Bibliothèque Nationale verlagern… Wo wollen sie denn hin damit? Das ist doch ein Riesen-Kasten…

Pierre: Nach China… Es wird alles in Kisten verpackt und dann in einem Gewerbegebiet nahe Kanton wieder aufgebaut. Mit einem von den Türmen haben sie schon angefangen…

Marie (bestürzt): Nee, echt jetzt…?

Pierre: Doch…

Marie: Aber was wollen sie denn mit den ganzen Büchern anfangen, die Chinesen? Die verste­hen doch kein Wort. Die können das nicht mal alphabetisch ordnen…

Pierre: Die gesamte französische Literatur wird per maschineller Übersetzung ins Esperanto übertragen, dann digitalisiert und auf einem gigantischen zentralen Rech­ner abgespei­chert, der die Form einer Pagode hat. Wer Zugang zu den Dateien haben will, muss natürlich ein Abo abschließen, wie für einen privaten Fernseh­sender, Canal Plus oder so. Was das Papier angeht, das wird recycelt. Dadurch wird wenigstens verhindert, dass sie auch noch die letzten Hektar Eukalyptus-Wälder in China abholzen (seufzt) Mein Opfergang könn­te immerhin ein paar Pandas retten…

Marie (niedergeschmettert): Das kann doch nicht wahr sein…

Pierre versucht, ernst zu bleiben, dann platzt er lachend heraus.

Pierre: Natürlich nicht! Hast du mir so einen Blödsinn wirklich abgenommen?

Marie (sauer und erleichtert zugleich, schlägt mit einem Sofakissen nach ihm): Mit sowas macht man keine Witze…

Pierre: Stimmt, das ist jetzt nicht der richtige Moment, meinen Job zu verlieren. Ist ja nicht schlecht bezahlt… und ich hab genug Zeit zum Schreiben… Ach, übrigens, die gute Nach­richt: der Verlag Les Éditions Confiden­tielles will mein Stück herausbringen!

Marie (täuscht Begeisterung vor): Les Éditions Confiden­tielles… Genial!

Pierre: Naja… Auf Kosten des Autors… Ich muss mindestens viertausend Stück verkaufen, um die Kosten für den Druck reinzubekommen. Viertausend Exemplare – das geht doch schnell weg, meinst du nicht?

Marie: Wenn sich’s deine und meine Eltern teilen… 2000 Exemplare für jede Partei!

Pierre reibt sich die Hände mit einem zufriede­nen Lächeln.

Pierre: Also… Essen wir jetzt? Heute Abend steht Strip Poker auf dem Pro­gramm.

Marie (versteht nicht gleich): Wie – sollen wir beide einen Strip Poker hinlegen?

Pierre: Strip Poker – diese Reality-Show im Fernsehen, du weißt schon!

Marie: Nö…

Pierre: Wo sie Paare einladen; und immer, wenn einer der beiden Ehepartner es für klüger hält, nicht auf eine Frage des anderen zu antworten, muss er oder sie ein Kleidungs­stück ausziehen!

Marie (seufzt): Ich verstehe echt nicht, wie du dir so einen Schwachsinn ansehen kannst…

Pierre: Och, nur noch dieses eine Mal! Heute Abend ist das Finale!

Marie: Tja, Finale oder nicht, das muss diesmal ausfallen…

Pierre: Ist die Glotze kaputt?

Marie: Nee… Aber das mit dem Fernsehen wird heute nichts…

Pierre: Bekomme ich etwa Fernsehverbot?

Pierre merkt, dass der Tisch für Vier gedeckt ist.

Pierre: Sag bloß, du hast deine Eltern einge­laden?

Marie: Die Nachbarn.

Pierre: Die Nachbarn? Die sind doch vor einem Monat weggezogen…

Marie: Die neuen Nachbarn!

Pierre: Die neuen Nachbarn? Aber die kennen wir doch gar nicht!

Marie: Eben. Ich bin der Frau bei den Müllton­nen begegnet. Und hab gedacht, das wäre die Gelegenheit zum Kennenlernen.

Pierre: Und wozu?

Marie: Einfach zum Kennenlernen, nicht mehr.

Pierre: Wozu sollen wir sie kennenlernen?

Marie: Es ist immer gut, seine Nachbarn zu kennen… Und sich mit kleinen Gefälligkeiten auszuhelfen…

Pierre: Gefälligkeiten…? Was für Gefälligkeiten?

Marie: Was weiß ich… Die Blumen gießen, wenn wir nicht da sind…

Pierre: Die einzige Pflanze – die in meinem Arbeitszimmer – hat deine Katze letzten Sonntag aufgefressen, als wir bei deinen Eltern zum Mittagessen waren.

Marie: Genau deswegen! Wenn jemand da gewesen wäre, um sie zu füttern, hätte sie deine Pflanze verschont… Übrigens komisch, ich hab sie heute noch überhaupt nicht gesehen…

Pierre seufzt.

Pierre (besorgt): Sie haben bestimmt Kinder, oder?

Marie: Drei, glaub ich.

Pierre: Sag bloß nicht, die hast du auch eingeladen?

Marie: Die bleiben bestimmt lieber ungestört zu Hause. (Ironisch) Um ja nicht das Finale von Strip Poker zu verpassen.

Pierre: Musst du so drauf rumreiten?

Marie: Außerdem ist es gleich nebenan…

Pierre: Ach, du hast gar nicht die von gegenüber gemeint?

Marie: Die Nachbarn von gegenüber haben doch vor sechs Monaten Selbstmord began­gen! Erinnerst du dich nicht mehr an die ganzen Feuerwehrautos, das Blaulicht, die Sirenen, mitten in der Nacht?

Pierre: Nee…

Marie: Also, mich hat das damals aus dem Schlaf geris­sen und ich hab seitdem Albträu­me… Sie haben das Gas aufgedreht… es hat nicht viel gefehlt und das ganze Viertel wäre in die Luft geflogen…

Pierre: Es gibt wirklich Leute, die nur an sich denken… Und wieso haben die Selbstmord begangen? Und auch noch paarweise?

Marie: Keine Ahnung! Vielleicht war nichts Besonde­res im Fernsehen, an dem Abend… (will etwas andeuten) Vielleicht, wenn wir sie eingeladen hätten…

Pierre (findet das weit hergeholt): Erzähl mir jetzt nicht, dass du die Nachbarn zum Essen eingeladen hast, damit du dich nicht schul­dig fühlen musst, wenn sie vorhaben sollten, ausgerechnet heute Abend Selbstmord zu begehen…?

Sie zuckt mit den Schultern.

Marie: Ach, übrigens, komisch, ich habe heute ein paar Anrufe für dich auf mein Handy bekommen.

Pierre: Ach ja, entschuldige, ich weiß nicht, wo meines hingekommen ist… Deswegen habe ich auf dem Anrufbeantworter in meinem Büro deine Nummer hinterlassen… Für den Fall, dass ein Herausgeber versucht, mich zu erreichen, wegen meinem Theaterstück… Es ist besser, dass ich jederzeit erreichbar bin, verstehst du…

Marie (fassungslos): Meine Handy-Nummer? Wär’s nicht einfacher gewesen, dass du dir gleich ein Neues zulegst?

Pierre: Pff… Ich hab mir gedacht, dass man auch ganz gut ohne leben kann, oder?

Marie: Ach soo… Wenn man eine Ehefrau an der Hand hat, die die Telefonistin abgibt…

Pierre: Hör mal, du versuchst gerade, mit dem Rauchen aufzuhören und ich hab mir vorge­nom­men, mit dem Handy Schluss zu machen. Mal sehen, wer länger durchhält.

Marie (gereizt): Ja, aber ich verlange auch nicht von dir, meine Zigaretten zu rauchen!

Statt zu antworten, vertieft sich Pierre wieder in die Lektüre seines „Parisien“, von dem nur die Zuschauer die Schlagzeile („Krebs durchs Handy?“) lesen können, nicht Marie. Marie wirft ihm einen genervten Blick zu.

Marie: Du könntest dir vielleicht was Anderes anziehen, bevor sie kommen?

Pierre: Wer?

Marie: Die Nachbarn!

Pierre: Ach ja, stimmt! Die hatte ich ganz vergessen…

Pierre fügt sich in sein Schicksal und steht auf um sich umzuziehen.

Marie: Ich schau mal nach, ob der Backofen nicht ausgegangen ist. Es riecht ein bisschen nach Gas… findest du nicht?

Pierre zuckt die Schultern und geht ab Richtung Schlafzimmer. Marie geht auch einen Augenblick raus und kommt mit Flaschen und Gläsern für den Aperitif zurück. Pierre kommt kurz danach zurück, in Schlabber-Look.

Marie (glaubt ihren Augen nicht): Hast du einen Schlafanzug angezogen?

Pierre: Das ist kein Pyjama! Das ist ein… Jogging-Anzug für zuhause.

Marie: Und deine Filzlatschen sind wohl die dazu gehörige Ausstattung für zuhause?

Pierre: Hör mal, wenn wir schon nichts Besseres zu tun haben als den Nachbarn etwas näher zu kommen, können wir’s doch gleich etwas locker angehen, oder?

Marie: Und was soll werden, wenn er im Anzug mit Krawatte erscheint und sie im Abendkleid … Von einer Pyjama-Party hab ich denen nichts erzählt…

Er geht mit einem Seufzer ab. Sie macht mit ihren Vorbereitungen weiter. Er kommt in einer etwas konventionelleren Aufmachung zurück.

Pierre (ironisch): Besser so?

Marie (nicht wirklich überzeugt): Geht so…

Pierre schaut die Post auf dem Beistelltisch durch.

Pierre: L’Avant-Scène, Actes Sud, Les Éditions Théâtrales… lauter Bühnenverlage…

Sie schaut ihn überrascht an.

Pierre: Is nur ein Scherz, leider… (sieht noch mal auf die drei Briefabsender). Telecom, Strom, Wasserwerke… (seufzt) Das glorreiche Trio….

Marie (will ihn aufmuntern): Wahrscheinlich streikt die Post mal wieder. Dann wird nicht alles zugestellt, nur Rechnungen.

Das Handy von Marie klingelt. Sie geht ran.

Marie: Ja…? (mit vorgetäuschter Liebenswürdigkeit) Nein, das ist hier die Zentrale, aber einen Moment, ich verbinde. (Hält Pierre ihr Handy hin) Dein Freund Patrick…

Er nimmt das Handy, als ob nichts wäre.

Pierre: Ja, hey Patrick… Wie geht’s?… Ja, nich? Ist schon wieder eine Weile her… Dienstag? Ja, klar, warum nicht… Aber ich muss das erst mit Marie absprechen. Sie ist gerade beschäftigt. Ruf mich morgen noch mal an, ja?… Ähm… ja, wenn ich nicht zuhause bin, kannst du’s auf dem Handy versuchen…

Marie ihn sieht ihn finster an.

Pierre: Ok, bis dann, Patrick…

Er legt auf.

Pierre: So ein Klotz.

Marie: Was wollte er denn?

Pierre: Uns zum Abendessen einladen, am Dienstag. Zum Geburtstag seiner Frau…

Marie: Ich hab gedacht, er ist dein bester Freund…?

Pierre: Geburtstage finde ich deprimie­rend…… Lade ich ihn etwa zu deinen Geburtstagen ein…?

Marie: Dazu müsstest du dir erst mal merken, wann ich Geburtstag habe… …

Pierre: Nee, wirklich, ohne Handy wird’s bestimmt ruhiger… So… Und wo hängen jetzt diese Nachbarn rum … Die werden uns doch nicht damit kommen, dass sie im Stau gestanden haben – wo sie gegenüber wohnen!

Marie: Nebenan…

Pierre: Eben, die müssen ja nicht mal über die Straße…

Marie: Jetzt beruhig dich, ist ja erst neun Uhr…

Pierre: Um die Zeit sind wir normalerweise schon fertig mit dem Abendessen. Ich krieg allmählich Kohldampf… (angeregt) Besonders, wenn es so lecker riecht. (Ungläubig) Was hast du uns denn Feines geköchelt?

Marie (stolz): Schweinebraten mit Backpflaumen. Das Rezept habe ich aus Elle

Pierre: Aah… Hm… ich weiß ja nicht, ob das der rich­tige Zeitpunkt für Experi­mente ist, aber na gut…

Schweigen.

Pierre: Ich weiß nicht mal, wie die heißen, diese Leute…

Marie: Sie heißt Céline und er Jacques, glaub ich…

Pierre: Na, schau an, ihr seid ja schon richtig intim geworden… Und wie heißen sie mit Nachnamen?

Marie (überlegt): Puh, weiß ich nicht mehr. Klingt nach Waschmittel…

Pierre: Coral?

Marie schüttelt den Kopf.

Pierre: Frosch?

Marie schüttelt wieder den Kopf.

Pierre: Oder etwa Omo?

Marie (der es wieder eingefallen ist): Ariel! (zögert noch einmal) Oder Mariel…

Pierre: Also was jetzt – Mariel oder Ariel?

Marie: Ich weiß es nicht. Sie hat sich mit „Madamariel“ vorgestellt… Na, wird sich herausstellen … Ist doch nicht wichtig, oder?

Pierre: Schon ein bisschen! Weil – wenn sie Ariel heißen, dann kannst du deinen Schweinebraten… Obwohl… sie können immerhin noch die Pflaumen essen. Ist gut für die Verdauung…

Marie (in heller Aufregung): Mist – da hab ich gar nicht drangedacht…

Pierre: Tja… so ist das, wenn man Leute einlädt, die man nicht kennt…

Marie: Na, woher hätte ich das wissen sollen? Jacques und Céline, das klingt nicht…

Pierre: Die Muslime heißen auch nicht alle Mohammed …

Marie: Ach, weil du glaubst, dass sie Muslime sind …?

Pierre: Egal, für den Schweinebraten mit Pflaumen kommt das aufs Gleiche raus, oder?

Marie: Vielleicht sind sie ja nicht strenggläubig…

Pierre: Aber vielleicht solltest du doch schon mal eine Tiefkühl-Pizza auftauen… eine vegetarische, vorzugsweise…

Marie seufzt. Es klingelt. Marie gerät in Panik.

Marie: Was machen wir jetzt?

Pierre: Hmm… ich glaube, du musst nur noch die Türe aufmachen. So läuft das doch im Allgemeinen, wenn man Leute eingeladen hat, die dann auch noch an der Türe klingeln… (hoffnungsvoll) Oder aber, wir machen schnell das Licht aus und schauen uns Strip Poker an – im Badezimmer…

Marie: Ich geh schon…

Sie verschwindet im Flur, um die Türe aufzu­machen und die Nachbarn zu begrüßen.

Marie (off): Guten Abend, schönen Guten Abend… Kommen Sie herein, immer hereinspaziert… (nimmt das Geschenk in Empfang, das ihr die Nachbarn überreichen) Ach, das wär doch nicht nötig gewesen, wirklich nicht…

Pierre (zur Seite, mit einem Seufzer): Ein Geschenk Marke Omo… oder Ariel…

Marie kommt wieder ins Esszimmer, mit einem Blumenstrauß in der Hand, hinter ihr die Nachbarn.

Pierre (imitiert ironisch die gekünstelte Liebenswürdigkeit von Marie): Seien Sie gegrüßt, herzlich willkommen…!

Marie: Was sind das für Blumen? Margeriten? Die haben ja enorme Blüten!

Céline (verlegen): Tulpen…

Marie: Aber natürlich, die sind ja wunderbar!

Céline: Sie haben vielleicht ein wenig unter der Hitze gelitten…

Die Blumen sehen tatsächlich ernsthaft mitgenommen aus.

Marie: Wir stellen sie gleich ins Wasser…

Pierre: Das wird sie vielleicht zu neuem Leben erwecken…

Die Nachbarn treten ein. Céline, dunkelhaarig, um die Fünfzig, die man ihr aber nicht ansieht, zierlich, elegant und dabei klassisch angezogen, in so etwas wie einem Kostüm und mit Haarknoten. Jacques, eher schwer und füllig, mit einer Flasche in der Hand, trägt einen Anzug, der genauso heruntergekommen ist wie die Blumen. Alles in allem ein konventioneller Look, im Stil klar unter­schieden vom jugendli­chen und lässigeren Stil von Pierre und Marie. Marie stellt sie einander vor.

Marie (zu Jacques): Darf ich vorstellen, das ist mein Mann (hebt den Familiennamen hervor) Pierre Safran

Die beiden Männer geben sich die Hand.

Pierre (lustlos): Sehr erfreut…

Marie (zu Jacques): Und Sie sind…?

Jacques (mit einem Lächeln): Jacques…

Marie: Einfach nur Jacques, sehr schön….

Jacques übergibt Pierre seine Flasche.

Jacques: Hier, am besten gleich in den Kühlschrank damit…

Pierre: Ah, eine Blanquette de Limoux, ein Crémant! Besten Dank, Jacques…

Jacques: Gekühlt genauso gut wie Champagner, oder?

Pierre (ironisch): Ja, warum sich gleich ruinieren. Ich leg ihn ins Tiefkühlfach… Dann wird er noch besser.

Pierre bringt die Flasche in die Küche.

Marie (verlegen): Haben Sie’s gleich gefunden?

Die Nachbarn von nebenan schauen sich verdutzt an.

Marie (korrigiert sich): Nein, ähm… ich meine: nicht den Weg zu uns, Sie wohnen ja gleich nebenan… Ich wollte sagen, haben Sie ohne Probleme… (sie improvisiert) jemanden gefunden, der auf ihre Kinder aufpasst…?

Céline: Ach so, ja, ganz einfach: die Große passt auf die Kleinen auf… Aber wenn’s Ihnen nichts aus­macht, werden wir später mal rüberschauen…

Pierre kommt zurück.

Marie: Und wie heißen Ihre Kinder?

Céline: Sarah, Esther und der jüngste heißt Benjamin.

Marie strengt sich sichtbar an, daraus auf die Religionszugehörigkeit der Nachbarn zu schließen, aber ohne großen Erfolg.

Marie: Klar, Benjamin… Ist ja logisch… Das Nesthäkchen.

Céline: Sie haben keine Kinder, nicht wahr…?

Etwas peinliches Schweigen.

Marie: Noch nicht… (gibt sich einen Ruck) Entschuldigen Sie die Nachfrage, aber Ihr Familienname – war das Mariel, wie der Schauspieler oder Ariel…?

Pierre: Wie das Waschpulver…

Jacques: Mariel.

Marie (erleichtert): Uff! Wir hatten Angst, dass Sie Juden sind!

Unbehagen bei den Gästen. Marie kommt ins Stocken, aber fängt sich noch einmal.

Marie: Ach, entschuldigen Sie, es ist nur so, dass ich einen Schweinebraten mit Pflaumenfül­lung im Rohr habe… Aber das können wir noch ummodeln. Irgendwo im Gefrierfach muss noch eine Quiche Lorraine rumliegen… Das macht keine großen Umstände…

Pierre: Sonst können wir die Einladung ja auch auf ein anderes Mal verschieben…

Marie wirft ihm einen vernichtenden Blick zu.

Céline (entspannter): Ach, nicht doch, Sie brauchen keine Rücksicht auf uns zu nehmen. Der Schwei­­nebraten geht vollkommen in Ordnung.

Jacques (mit trockenem Humor): Nur Ihre Pflaumen… die sind hoffentlich koscher? (sieht zufrieden, wie verlegen Marie wieder wird) Nein, ich mach nur Spaß. Haupt­sache, sie sind entsteint! Das sag ich immer, wegen der Zähne. … Und Sie, wie war Ihr Familienname gleich wieder? Curry?

Marie: Safran…

Jacques: Ach, schade… (Pierre und Marie verstehen nicht).

Jacques (selbstzufrieden): Na, wegen Pierre und Marie… (Pierre und Marie verstehen immer noch nicht.) Pierre und Marie Curie!

Céline findet den Witz ihres Mannes auch ein wenig plump.

Marie (lächelt etwas gequält): Sie haben echt Humor, das gefällt mir… Ist doch egal, ob Jude oder Moslem, oder?

Pierre: Ja, genau, es hätte noch schlimmer kommen können! Dass Sie so was wie Zahnarzt oder Informatiker sind…

Erneutes Unbehagen.

Marie (will die Stimmung etwas auflockern): Wie wär’s mit einem Ape­ri­tif?

Licht aus

ZWEITER AKT

Die beiden Ehepaare trinken Aperitif. Pierre und Marie sehen absolut gelangweilt aus, aber bemühen sich, Jac­ques bei seinen nichtssagenden Auslassungen aufmerk­sam zuzuhören.

Jacques: Für uns Zahnärzte besteht das Problem mittlerweile darin, dass wir mehr Zeit damit verbringen, Formulare auszufüllen als Zäh­ne zu behandeln. Und dann auch noch alles per Computer… Ich sage immer: ich habe gelernt, wie man mit einem Bohrer um­geht, aber nicht mit einer Maus. Zum Glück hilft mir meine Frau. Informatik, das ist ihr Metier, nicht meins…

Pierre und Marie nicken beifällig.

Jacques: Nein, und außerdem wird man heutzutage als Selbstständiger auch von diesen Abgaben erdrückt… Apropos, kennen Sie den schon?

Pierre und Marie schauen höflich interessiert drein.

Jacques: Ein Zahnarzt ist mit seiner Frau auf Kreuzfahrt im Pazifik. Das Schiff erleidet Schiffbruch und geht unter…

Marie bricht in schallendes, aber aufgesetztes Lachen aus. Die anderen schau­en verständnislos.

Jacques: Ähm, nein, es geht noch weiter…

Marie wird wieder ernst.

Jacques: Sie treiben eine Woche lang auf hoher See, bevor sie auf einer einsamen Insel stranden. Die Frau macht sich natürlich schon bald Sorgen und sagt zu ihrem Mann: Die werden uns nie finden!

Marie bricht abermals in Lachen aus.

Jacques: Nein, die Pointe kommt erst noch…

Marie wird wieder ernst.

Jacques: Der Mann zur Frau: Du hast doch hoffentlich daran gedacht, vor unserer Abfahrt noch die Steuer und die Versicherungsbeiträge zu überweisen? Sagt die Frau: Nee! Er: Dann mach dir keine Sorgen – die finden uns!

Jacques lacht lauthals über seinen eigenen Witz. Marie ist vorsichtig und lacht nicht.

Jacques: Das war’s jetzt…

Marie bringt ein etwas dümmliches Lächeln zustande. Jacques zieht ein Päck­chen Ziga­retten heraus und bietet Pierre eine an.

Jacques: Zigarette?

Pierre: Nein danke, ich rauche nicht…

Jacques hält das Paket Marie hin.

Marie: Ich hab heute Morgen aufgehört…

Céline wirft Jacques einen finsteren Blick zu, er steckt seine Zigaretten wieder ein.

Jacques: Na, dann werde ich Sie natürlich nicht vollqualmen… Obwohl… über die Zigaretten wird immer gelästert – und was ist mit den Handys? Die sind doch genauso gesundheits­schädlich, oder? Ich hab gerade heute früh einen Artikel darüber gelesen, im Parisien. Es ist scheinbar so, dass man bei mehr als einer Viertelstunde Handy am Tag unweigerlich Hirntumor bekommt…

Marie ist betroffen. Sie greift nach dem „Pari­sien“, der unter dem Wohnzimmertisch liegt und wirft einen Blick auf die Schlagzeile: „Krebs durchs Handy?“

Jacques: Da sollte man die Flatrate besser nicht überziehen!

Marie sieht empört zu Pierre, der den Unschuldigen spielt.

Jacques: Ich rauche zwar, aber dafür habe ich kein Handy!

Marie (ironisch): Mein Mann auch nicht. Ihm ist es lieber, dass ich mir einen Tumor einfange.

Jacques: Wissen Sie, was das Lästigste an unserem Beruf ist?

Pierre und Marie machen ein Gesicht, als würden sie sich das fragen.

Jacques: Dass man sich die ganze Zeit die Hän­de waschen muss, zwischen zwei Patienten. Schauen Sie sich meine Hände an – die sind ganz trocken! Ich könnte mir ja Handschuhe anziehen, werden Sie sagen, aber… Stellen Sie sich das nur mal vor… Zahn­be­handlungen sind Präzisionsarbeit, wissen Sie. Haben Sie schon mal versucht, mit Boxhandschuhen eine Nadel einzufädeln?

Pierre: Noch nie… Außerdem komme ich nur selten zum Nähen, eher zum Stricken…

Jacques: Schauen Sie, ich sag immer, wir haben es besser als die Psychoanalytiker. Anfangs ist noch alles gleich – der Patient kommt, legt sich hin, macht den Mund auf… aber dann hört nur noch er mir zu!

Céline: Du langweilst sie mit deinen Geschichten…

Marie: Aber nein, überhaupt nicht…!

Céline: Erzählen Sie uns doch lieber etwas über sich… (zu Marie) Sie sind Lehre­rin, stimmt’s?

Marie: Ja, für Solfège, also Musiktheorie. Aber ob das so viel prickelnder ist – da bin ich mir nicht sicher…

Pierre wirft ihr einen Blick zu, um sie auf ihre neuerliche Entgleisung aufmerksam zu machen.

Céline: Ah, Solfège-Lehrerin… Ich habe 10 Jahre Solfège-Unterricht gehabt, als ich jung war…

Marie (zeigt sich ein wenig interessiert): Haben Sie auch ein Instrument gespielt?

Céline: Keines… Meine Eltern haben geglaubt, dass es schon bildet, wenn man Musiktheorie lernt, so ähnlich wie eine tote Sprache, wie Griechisch oder Latein. Mit 18 habe ich aber dann gesagt: Jetzt ist Schluss damit.

Pierre (tut, als sei er beeindruckt): Da waren Sie ja schon als Teenagerin eine kleine Rebel­lin…

Céline: Danach hab ich einen Kurs für Gesellschaftstänze ge­macht.

Marie: Das hat bestimmt ihr Leben umgekrempelt

Jacques (süßlich): Da haben wir uns kennengelernt, Céline und ich…

Marie (tut interessiert): Ach, wirklich?

Jacques: Ja, Tatsache… Ich war ein recht guter Tänzer, damals, wissen Sie… Eigentlich bin ich’s noch immer… Es ist wohl so, dass 40% der Männer ihre Frau beim Tanzen kennen­gelernt haben. (Zu Pierre) Haben Sie Ihre reizende Gattin auch auf diese Weise für sich eingenommen…?

Pierre: Ach nee. Nein, bei uns hat’s damit angefan­gen, dass ich sie in eine Einfahrt gezerrt ha­be, bei einem Gewitter, nachdem ich ihr angebo­ten habe, unter meinen Regenschirm zu kommen… Ist wohl eher selten, dass sich Ehepaare auf diese Weise kennen­lernen…

Peinliches Schweigen.

Marie: Das ist natürlich nur fantasiert von mei­nem Mann…

Pierre: Sie mag’s gar nicht, wenn ich das erzäh­le.

Marie: Möchten Sie noch was von dem Aperitif?

Céline: Ach… vielleicht noch einen Spritzer…

Pierre: Vor oder… nach dem Aperitif?

Marie wirft Pierre einen drohenden Blick zu und schenkt dann allen nach.

Céline: Wir haben Benjamin, unseren Jüngsten, im Kindergarten nebenan ange­meldet… Haben Sie von dem Gutes gehört?

Marie: Keine Ahnung, wir haben ja keine Kinder.

Céline: Ach, stimmt. Entschuldigen Sie…

Pierre: Na – ist ja nicht Ihr Fehler. Oder?

Schweigen.

Céline: Und Sie, Pierre? Was machen Sie so, beruflich…?

Pierre: Ich? Ach, nichts…

Die Nachbarn schauen begreiflicherweise etwas verdutzt.

Céline: (verständnisvoll): Auf Arbeitssuche…?

Pierre: Nee, ich suche nichts… Ich würde eher sagen: beschäftigungsloser Gehalts­empfänger. Ist gar nicht leicht, so weit zu kommen, wis­sen Sie? So tun, als ob man arbeitet, obwohl man gar nichts zu tun hat… Dazu muss man schon ein sehr guter Schauspieler sein.

Céline (verlegen): Hm, wenn das so ist: was machen Sie, wenn Sie nicht arbei­ten…? Ich meine… außerhalb Ihrer Bürozeiten…

Pierre: Naja… Ich bin Schauspieler, das ist es ja gerade! Gelegenheits­schau­spieler.

Céline (verwirrt): Schauspieler? Ach ja, Ihr Gesicht kam mir gleich bekannt vor… In was haben Sie gleich wieder gespielt?

Pierre: Schauen Sie manchmal „Feuer der Liebe“ im Fernsehen an?

Jacques (erstaunt): Ja, ich schon, gelegentlich – wenn ich mein Nickerchen mache.

Pierre: Dann haben Sie sicher die Werbung davor gesehen, für diese Sterbegeld­versicherung?

Jacques sieht nicht so aus, als wüsste er, worum es geht.

Pierre: Doch, bestimmt. Zwischen der Werbung für Hörgeräte und der für Treppen­lifte.

Jacques: Ähm… Ja, kann sein…

Pierre: Genau. Und der Typ, der im Sarg, das bin ich…

Jacques (erstaunt): Ehrlich…?

Pierre: Eine Rolle ohne große Worte, sozusagen…

Marie sieht missbilligend zu Pierre, der sich über die Wirkung des Gesagten freut.

Céline (verlegen): Und sonst, haben Sie noch andere Projekte…?

Es klingelt an der Wohnungstüre.

Jacques: Ach, Sie erwarten noch andere Gäste?

Marie: Nein, nein… Wir erwarten niemand mehr.

Pierre geht die Wohnungstür aufmachen.

Pierre (im Off): Ach, jetzt schon… Na gut. Warten Sie einen Moment, ich komm gleich wieder…

Pierre kommt mit einem Stapel Kalender zurück.

Pierre (verlegen): Es ist der Briefträger, mit den Weihnachtsgeschenken von der Post…

Jacques: Na, der ist ja früh dran, dieses Jahr… Sind Sie sicher, dass der Briefträger echt ist?

Pierre: Also, er hat eine blau-gelbe Jacke an und sieht ganz dem Typen ähnlich, der jeden Tag die Post bringt…

Jacques: Aha…

Pierre: Sie hätten nicht vielleicht zehn Euro, ich hab gerade kein Kleingeld… Ich geb es Ihnen dann später zurück…

Jacques sucht etwas widerwillig in seinen Taschen.

Jacques: Ach, zu dumm, ich hab den letzten 5-Euro-Schein für den Crémant ausgegeben. Aber ich hab noch 2 Euro, wenn Sie möchten…

Pierre: Ok, dann… gebe ich ihm einfach Ihren Crémant mit … Wenn’s Ihnen nichts ausmacht.

Jacques: Nein… Stört mich nicht…

Pierre reicht Jacques den Stapel Wandkalender.

Pierre: Suchen Sie sich schon mal einen aus…

Pierre geht den Crémant aus dem Tiefkühlfach holen. Währenddessen setzt Jacques eine altmodische Brille auf und sieht die Kalender mit überzogen ernsthafter Miene durch.

Jacques: Schau mal, Céline, ich nehme den hier mit den drei Kätz­chen… Die sind doch niedlich, findest du nicht?

Céline antwortet nicht. Pierre kommt mit der Flasche Crémant zurück.

Pierre: Sie können den Kalender gerne behalten…. Dafür bekommt der Briefträger Ihren Crémant…

Jacques: Danke.

Pierre geht mit den übrigen Kalendern und der Flasche Crémant ab.

Pierre (im Off): Hier, bitte schön, er ist gut gekühlt… Und dann schon mal: Frohe Weihnachten!

Pierre kommt wieder.

Céline: Frohe Weihnachten… Mitten im Oktober… Die sind ganz schön dreist, so früh im Jahr…

Pierre: Das muss die Klimaerwärmung sein… Es gibt keine Jahreszeiten mehr. Die Postboten sind auch schon ganz durcheinander…

Marie: Ich sehe mal nach meinem Schweinebraten mit den Pflaumen. Mir kommt es so vor, als ob es nach Gas riecht…

Jacques (steht auf): Dann geh ich mal rüber zu uns und sehe nach, was die Kinder anstellen. Bevor wir zu Tisch gehen…

Marie: Dauert noch einen Augenblick!

Jacques: Bemühen Sie sich nicht, ich kenne den Weg.

Céline (steht auch auf): Wo kann ich mir denn die Hände waschen? … Die Erdnüsse… Sind doch immer ein wenig fettig…

Marie: Ja, natürlich. Am Ende vom Flur, immer gera­deaus.

Jacques und Céline gehen ab.

Marie: Was ist denn in dich gefahren, denen zu erzählen, dass du in der Werbung für das Bestattungsinstitut den Toten spielst? (Macht ihn mit Ironie in der Stimme nach) „Eine Rolle ohne große Worte“…

Pierre: Ach, komm schon, das war doch nur, um ein bisschen Stimmung in den Laden zu bringen – es ist so was von totlangweilig mit den beiden, oder? Und wir sind erst beim Aperitif… Nur als Vorwarnung: das halte ich nicht bis zum Nachtisch aus… Wir müs­sen uns was einfallen lassen, damit sie Leine ziehen…

Marie: Du hast schon recht, besonders heißblü­tig sind sie nicht, aber… es ist ein bisschen zu spät, um sie noch auszuladen. Eins steht fest: Nochmal einladen werden wir sie nicht.

Pierre: Warte nur ab, nächstes Mal werden die uns einladen, du wirst schon sehen! … Da hast du uns einen schönen Schlamassel eingebrockt, da kommen wir nicht mehr so einfach raus – das ist dir hoffentlich klar?

Marie ist sich im Klaren, versucht aber es herunterzuspielen.

Marie: Ach, jetzt übertreibst du … Gut, ich werd versuchen, ein bisschen schneller aufzutischen… Hier, mach schon mal den Wein auf…

Pierre: Na, wenigstens bin ich seine Flasche Schampus losgeworden. Von so was krieg ich nur Blähungen…

Marie geht Richtung Küche. Pierre greift sich die Weinflasche. Céline kommt zurück.

Céline: Das ist wirklich nett von Ihnen, diese Kennlern-Einladung. Ich hab in dieser Gegend gewohnt, vor langer Zeit, als ich zur Schule gegangen bin, aber ich kenne hier niemanden mehr… Außerdem kann man sich unter Nachbarn mal mit kleinen Gefälligkeiten aushelfen…

Pierre: Ja, das sagt meine Frau auch… (Ihm kommt eine Idee) Übrigens, ich freue mich, dass Sie das sagen… Weil… Es ist nämlich so, dass ich Sie um etwas bitten wollte.

Pierre hält ihr die Flasche hin.

Pierre: Wären Sie so gut, die Flasche aufzumachen, ich weiß nicht, ob ich noch die Kraft dazu habe…

Céline stutzt, aber macht sich dann unbeholfen an der Flasche zu schaffen. Sie bemüht sich mit aller Kraft, den Korken herauszuziehen.

Pierre: Ich wollte uns nicht den Abend verderben, aber… Ich habe Krebs…

Bei diesen Worten gelingt es Céline plötzlich, den Korken mit einem einzigen Ruck herauszuziehen. Pierre nimmt ihr die Flasche ab und schenkt ein, während er weiter redet.

Pierre: Mir ist gerade eröffnet worden, dass ich einen Tumor habe… Ich muss meine Flatrate überzogen haben…

Céline: Ihre Flatrate…?

Pierre: Das Handy, Sie wissen schon… Die… Die Strahlung. Muss ein veraltetes Modell gewesen sein…

Céline (mitfühlend): Hirntumor…

Pierre: Schlimmer…

Céline sieht ihn an und überlegt, was wohl noch schlimmer sein könnte.

Pierre: Hodenkrebs…

Céline (entsetzt): Nein…!

Pierre: Die Freisprechfunktion, Sie wissen schon, schützt den Kopf, aber in Wahrheit wird das Problem nur verlagert…

Céline: Das tut mir entsetzlich leid für Sie…

Pierre (hebt sein Glas, um ihr zuzuprosten): Also dann, auf Ihr Wohl… Den lassen wir uns nicht entgehen…

Sie stoßen an, in Katastrophenstimmung.

Céline: Aber… jetzt gibt es doch schon Behandlungsmöglichkeiten…

Pierre: Ja… Mein Chirurg zieht eine Transplantation in Betracht… (Pause) Und das ist auch der Grund, warum ich meine Frau gebeten habe, Sie einzuladen… Sie und Ihren Mann…

Céline ist zutiefst betroffen.

Pierre: Noch etwas Wein?

Céline kann eine Aufmunterung gut gebrau­chen und lehnt nicht ab. Er schenkt ihr großzügig nach, sie leert das Glas in einem Zug.

Céline: Ah, gut, der Wein, nicht?

Pierre: Nehmen Sie sich doch von den Erdnüssen…

Sie bedient sich.

Pierre: Ja, also… Ich bräuchte einen Spender…

Céline: Einen Spender…?

Pierre rückt zu ihr und fasst sie an den Schultern.

Pierre: Wissen Sie, es lässt sich auch ganz gut mit nur einem Hoden leben… Die Operation ist harmlos und eine Woche später denken Sie gar nicht mehr dran. Nicht mal die Narbe ist zu sehen…

Céline (perplex): Das heißt, dass… Das müsste ich mit meinem Mann bereden… Ich weiß nicht, ob…

Marie kommt zurück und sieht die beiden in dieser zweideutigen Position.

Céline (verlegen): Ich sehe mal nach, ob Jacques mit den Kindern zurechtkommt… Sie wissen ja, wie die Männer so sind…

Sie geht hastig raus.

Marie: Na… Das sieht ja ganz so aus, als ob ihr euch inzwischen bestens versteht…

Pierre: Hör bloß auf. Das ist ein einziger Alb­traum. Wir müssen die beiden irgendwie loswerden…

Marie: Wie soll das deiner Meinung nach gehen? Wir können sie nicht gut rauswerfen – schließlich haben wir sie ja eingeladen!

Pierre: Wir ist gut…

Marie: Jaja, ich weiß, das war dumm von mir… Aber jetzt… jetzt ist die Sache gegessen… Ach, ich hab das Brot vergessen…

Bevor sie in die Küche geht, wirft Marie noch kurz einen Blick in „Elle“.

Marie (enttäuscht): So gut wie auf der Abbildung in Elle sieht der Braten nicht aus…

Pierre: Es sehen ja auch nicht alle Frauen auf der Straße so aus wie die Models in diesen Zeitschriften… Warum sollte das bei deinem Schweinebraten mit seinen Pflaumen anders sein…

Marie zuckt mit den Schultern und geht raus, leicht verstimmt. Sie dreht sich aber noch einmal zu Pierre um, bevor sie in der Küche verschwindet.

Marie: Versuch trotzdem ein bisschen nett zu ihnen zu sein…

Pierre: Damit die hier Wurzeln schlagen?

Marie: Die werden wir vielleicht noch zwanzig Jahre als Nachbarn haben. Besser, wir verkra­chen uns nicht schon gleich nach ihrem Einzug mit ihnen…

Pierre (verzweifelt): Mit Nachbarn kommt man am besten aus, wenn man sie erst gar nicht anspricht.

Marie will weiter in die Küche, aber dreht sich noch ein letztes Mal um.

Marie: Sag mal, du hast nicht zufällig die Katze gese­hen?

Pierre (etwas verlegen): Heute noch gar nicht…

Marie: Deine Zimmerpflanze war hoffentlich nicht giftig.

Marie geht raus. Jacques kommt zurück.

Jacques : Céline bringt noch den Kleinen ins Bett und kommt dann gleich wieder. Die anderen beiden schauen noch fern…

Pierre: Strip Poker…?

Jacques: „Die Abenteuer des Rabbi Jakob“… Mein Lieblingsfilm… Mmmm… Das riecht ja köstlich!

Jacques fasst Pierre an den Schultern.

Jacques : Ich bin sicher, wir werden uns gut verstehen… Solche Einladungen unter Nachbarn haben ja den Vorteil, dass man nicht weit zu fahren hat… Wir haben alle Zeit der Welt… und müssen garantiert nicht ins Röhrchen blasen!

Pierre (dem gerade etwas Neues einfällt): Sagen Sie, Jacques… Ich darf doch Jacques zu Ihnen sagen?

Jacques: Selbstverständlich, Pierre. Unter Nachbarn…

Pierre: Sie sind mir sehr sympathisch. Ich wollte Ihnen etwas vorschlagen. Genauer gesagt, ich und meine Frau…

Jacques (ahnungslos): Um was geht es denn?

Pierre: Sie haben doch bestimmt schon vom… vom Partnertausch gehört?

Jacques (wie vom Blitz getroffen): Nur vage…

Pierre: Also… meine Frau und ich… Also, wenn Sie wollen… Aber Sie brauchen sich nicht verpflichtet zu fühlen. Im Allgemeinen kommt es dazu zwischen Dessert und Kaffee… Aber wenn Sie nicht daran interessiert sind, können Sie einfach vor der Käseplatte aufstehen und gehen. Ich und meine Frau verstehen das dann schon…

Jacques ist fassungslos und hat auch nicht mehr Zeit zu antworten. Céline kommt zurück.

Céline: So! Jetzt können wir ganz in Ruhe den Abend verbringen, nur wir vier…

Céline bemerkt den etwas gequälten Gesichtsausdruck von Jacques.

Céline: Stimmt was nicht?

Jacques (verlegen): Doch, doch… Wir haben über… über freien Gütertausch gespro­chen. Über Globalisierung, über Standortverlagerungen und so was… Meine Frau ist übrigens auch eine große Verfechterin von freiem Partnertausch…

Céline (korrigiert, peinlich berührt): Von freiem Gütertausch…

Betretenes Schweigen. Marie kommt mit dem gefüllten Schweinebraten aus der Küche.

Marie: Jetzt aber… Wenn Sie nichts gegen Schweinefleisch haben, können wir uns zu Tisch setzen…

Sie setzen sich an den Tisch. Etwas beklemmende Stille.

Marie: Möchten Sie neben meinem Mann sitzen?

Céline fügt sich, unter dem besorgten Blick von Jacques. Marie serviert reihum.

Céline: Das sieht ja wirklich sehr lecker aus…

Marie will Pierre bedienen.

Pierre: Nein, danke…

Marie: Hast du keinen Hunger?

Pierre: Nicht besonders… Und dann, Fleisch hat mich schon immer ein wenig ange­ekelt. Sie nicht?

Jacques und Céline sehen ihn verblüfft an.

Pierre: Sie wissen ja, kein Tier kommt dem Men­­­schen so nahe wie das Schwein, es unterscheidet sich vom Menschen nur in ein paar Genen. (Sieht zu Jacques) Wenn auch nicht in allen…

Den Gästen hat diese Einführung ein wenig den Appetit verdorben. Marie versucht, das Thema zu wechseln.

Marie: Und Sie, Céline? Sie haben uns noch gar nicht gesagt, was Sie beruflich machen…

Céline: Ich zögere immer ein wenig, darüber zu reden… Es ist nicht besonders gut angese­hen, in der heutigen Zeit…

Pierre: Sind Sie Stripperin… oder… Kfz-Mechanikerin?

Céline: Schlimmer… Ich bin… (pathetisch) … Cost Killer.

Pierre und Marie verstehen nicht.

Jacques: Kosten-Nutzen-Optimiererin auf gut Deutsch… In gewissem Sinn eine Kopfjägerin…

Marie: Und was machen Sie genau?

Céline: Also… Ich werde hinzugezogen, wenn ein Unternehmen in Schwierigkeiten steckt und es darum geht, abgestorbene Zweige eines Betriebs zu kappen, damit neue Triebe ungestört nachwachsen können…

Jacques: Diese Kostenjäger sind eigentlich das Gegen­teil von Head-Huntern… Ich sag immer: meine Frau, die lässt Köpfe rollen, damit der Rubel wieder rollt…

Marie (fasst sich an den Hals, beeindruckt): Das hört sich interessant an…

Jacques: Meine Frau ist eine Art Robes­pierre in Sachen Revolution durch Liberalismus… Eine glühende Verfechterin von freiem Partnertausch…

Céline (korrigiert): Von freiem Gütertausch…

Jacques: Ähm… Ja, natürlich…

Marie: Und welche Köpfe möchten Sie als nächstes zum Rollen bringen…?

Céline: Bis jetzt waren es immer Unternehmen der Privatwirtschaft, die an mich herangetreten sind. Aber in letzter Zeit kommt der Öffentliche Dienst vermehrt auf mich zu, ich habe gerade einen neuen Auftrag anvertraut bekommen…

Marie (in leicht scherzhaftem Ton, aber innerlich besorgt): Sie werden sich doch nicht an das Bil­dungswesen heranmachen… Da könnte ich mir nämlich vorstellen, dass man als Erstes die Lehrer für Musiktheorie guillotiniert…

Céline: Lachen Sie nicht, die kommen schon noch dran. Aber im Moment habe ich den Auftrag, einen anderen Dinosaurier zu zerlegen…

Marie: Doch nicht die Parti Socialiste?

Céline (mit zufriedenem Lächeln): Nein, die Bibliothèque Nationale…!

Pierre verschluckt sich.

Pierre: Die Bibliothèque Nationale…!

Céline: Das bleibt natürlich unter uns… Ich fan­ge morgen früh an, noch ist niemand eingeweiht. Ich werde unter den Angestellten die Produktivsten selektieren; und nur die behalten ihren Arbeitsplatz… Die anderen, die werden durch Computer ersetzt…

Jacques: Meine Frau ist eine Killerin. In ihrer Branche wird sie nur noch Osama genannt. Wenn sie mit der Bibliothèque Nationale fertig ist, dann stehen von der mindestens zwei Türme weniger, das garantiere ich Ihnen…

Marie hat es die Sprache verschlagen und Pierre steht kurz vor einem Schlaganfall bleibt fast das Herz stehen. Ihre Gäste merken jedoch nichts davon.

Céline: Aber ich will sie nicht langweilen… Ihr Schweinebraten mit Pflaumen ist wirklich ausgezeichnet. Können Sie mir das Rezept geben?

Jacques steht auf.

Jacques: Sie entschuldigen mich bitte für einen Augenblick, vor dem nächsten Gang… Die Pflaumen zeigen Wirkung…

Céline: Dann nutze ich die Gelegenheit und schau noch mal nach den Kindern, ob sie nicht Schund auf Canal Plus oder Sky ansehen. Wir sind zwar nicht abonniert, aber wer weiß, ob die nicht doch irgendwie da rankommen…

Jacques und Céline gehen nach verschiede­nen Seiten ab.

Pierre (in Untergangsstimmung): Jetzt bin ich dran. Ich seh mich auf dem ersten Karren zum Schafott…

Marie: Hättest du bloß nicht damit angegeben, dass du fürs Nichtstun bezahlt wirst… (sie macht ihn nach) „Dazu muss man schon ein sehr guter Schauspieler sein.“

Pierre (außer sich): Immer langsam – wie hätte ich denn erraten sollen, dass sie Kopfjägerin ist? Auf den ersten Blick sah sie nicht besonders angriffslustig aus… Und außerdem hast du sie eingeladen! Wenn du mir gesagt hättest, dass Frau Pol Pot heute zum Abendessen kommt, hätte ich mich zurückgehalten…

Marie: Ich weiß auch nicht, wie wir das wieder gerade biegen können…

Pierre: Noch dazu, wo ich ihm zum Dessert einen flotten Vierer vorgeschlagen habe…

Marie: Wie bitte?

Pierre: Das war doch nur, um sie schneller loszuwerden…

Marie (beleidigt): Nett von dir, dass du dabei auch an mich gedacht hast… Jetzt wird sie dich nicht nur für einen Schmarotzer halten, sondern auch noch für notgeil.… Und was, wenn die beiden zugestimmt hätten…

Pierre: Ich hab nur mit ihrem Mann darüber gesprochen… Nebenbei bemerkt: er hat noch nicht abgelehnt… Das Problem ist, dass wir sie jetzt mit allen Mitteln hier behalten müssen, damit sie eine bessere Meinung von uns bekommen…

Marie steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch und zündet sich eine Zigarette an.

Marie Ich glaube, das war nicht der richtige Tag, um aufzuhören. (Marie zieht ein paar Mal gierig an der Zigarette). Ah, das tut gut…

Pierre sieht sie entgeistert an, reißt sich aber wieder zusammen.

Pierre: Also gut, hör zu, wir sind an einem Punkt, wo ich nur noch eine Lösung sehe…

Marie: Das Gas aufdrehen, wie die Ex–Nachbarn…

Pierre: Sie weiß noch nicht, dass ich an der Bibliothèque Nationale arbeite… Wir müssen den Rest des Abends ausnutzen und sie irgendwie kompromittieren…

Marie: Und wie willst du das anstellen? Du wirst doch hoffentlich nicht von mir verlan­gen, dass ich diesen Schweinkram mitmache, den du ihrem Mann vorgeschlagen hast? Nur damit wir sie erpressen können und du deinen Job behältst?

Pierre: Nee, natürlich nicht, wenn sich’s vermeiden lässt… Als Erstes könnten wir sie dazu bringen, dass sie sich betrinkt… Die muss doch irgendwas haben, das sie verdrängt, bei ihrem ganzen vornehmen Getue…

Marie: Sie soll sich betrinken…? Glaubst du wirklich, dass wir sie dazu kriegen, dass sie auf den Tisch steigt und ein öffentliches Bekenntnis ablegt, wie bei einer Kulturrevolution…? Nee, wenn du die zum Reden bringen willst… kann ich mir nichts Anderes vorstellen, als sie mit dem Kopf in den Backofen zu stecken… (spinnt das weiter) Ich müsste sie irgendwie in die Küche locken, während du ihren Mann ausschaltest…

Pierre hört nicht auf sie. Er überlegt weiter…

Pierre: Ein öffentliches Geständnis… das bringt mich auf eine Idee…

Marie: Und zwar?

Pierre: Strip Poker!

Marie: Du willst ihnen jetzt tatsächlich einen Strip Poker vorschlagen?

Pierre: Einen Strip Poker, wie in dieser Reality-Show im Fernsehen! Wenn sie ordentlich über den Durst getrunken hat, schlagen wir ihr eine Partie Strip Poker vor.

Marie (besorgt): Was für eine Art von Strip Poker?

Pierre: Wer eine Runde verliert, muss zur Strafe auf eine indiskrete Frage antworten. So was wie ein Spiel um die Wahrheit! Die ist doch ne Zockerin…, wenn die einen in der Krone hat, macht sie bestimmt mit.

Marie (besorgt): Es ist nur so, dass ich nicht besonders gut im Pokern bin…

Pierre: Hast du was zu verheimlichen?

Marie: Nein, nicht direkt, aber…

Pierre: Na also!

Jacques und Céline kommen zurück.

Jacques: Ah, jetzt geht’s mir besser!

Marie: Gut… also…, dann können wir uns ja jetzt ans Dessert machen…

Verlegenheit auf Seiten von Jacques.

Jacques: Es wird so langsam spät, nicht? Wir sollten uns vielleicht auf den Heimweg machen …

Céline: Ach komm, Jacques, wir werden uns doch jetzt nicht einfach davonstehlen…

Pierre will die Nachbarn nicht mehr gehen lassen, um die Katastrophe abzu­wenden. Im Weiteren ist er in seinem Verhalten komplett umgewandelt.

Pierre (liebenswürdig): Kommt nicht in Frage! Nach dem Dessert spielen wir noch eine Runde… Mögen Sie Gesellschaftsspiele?

Céline: Da haben Sie meine Schwachstelle gefunden! Ich bin sehr verspielt… Stimmt’s, Jacques?

Licht aus.

DRITTER AKT

Es geht zu wie in einer verräucherten Spielhalle. Die vier sitzen um den Pokertisch, Kippe im Mundwinkel, ziemlich „aufgeknöpft“, über ihren Köpfen eine Lampe wie in den einschlägigen Filmen. Jacques und Céline sehen Marie beeindruckt zu, wie sie die Karten mit der Virtuosität eines Casino-Angestellten, eines „Dealers“, mischt.

Pierre: Kapiert? Am Ende jeder Runde darf der mit den meisten Chips demjenigen, der die wenigsten hat, eine Frage stellen…

Die Anderen nicken zustimmend.

Jacques (versucht zu witzeln): Solange es nicht meine Hosenknöpfe sind. Ansonsten habe ich nichts zu verbergen…

Pierre (in bedrohlichem Ton): Wir haben alle was zu verbergen… Man muss nur richtig nachbohren… Die richtigen Fragen stellen…

Die Stimmung ist zunehmend gespannt. Das Spiel beginnt. Die vier Spieler machen ihre Einsätze. Jacques hebt ab. Marie teilt die Karten aus (für jeden fünf). Pierre hält Céline eine Flasche hin.

Pierre: Noch ein kleiner Digestif gefällig…?

Céline (schon ziemlich angetrunken): Was soll’s! Eine kleine Ausschweifung von Zeit zu Zeit…

Jacques: Vernünftig ist das aber nicht… (Versucht es mit Humor) Sie wissen, dass man heute belangt werden kann, wenn man seine Gäste mit einem tüchtigen Zacken in der Krone abziehen lässt…

Pierre: Aber Sie haben ja selbst gesagt, dass Sie’s nicht weit nach Hause haben. Sie wohnen doch gleich gegenüber…

Jacques: Nebenan…

Pierre: Dann riskieren Sie ja nicht einmal, überfahren zu werden, wenn Sie über die Straße gehen… (zu Jacques, vieldeutig) Aber wenn es Ihnen lieber ist, können Sie natürlich auch hier bei uns schlafen…

Verlegener Gesichtsausdruck von Jacques.

Céline (leert ihr Glas auf einen Zug): Ah… Da schmeckt man schön die Birne heraus…!

Das Lächeln von Jacques friert ein. Marie ist fertig mit Geben. Jeder schaut in sein Blatt und versucht gleichzeitig, die Anderen auszuspähen..

Pierre: Zwei Karten…

Marie gibt ihm die Karten.

Céline: Drei…

Jacques: Eine…

Marie: Check…

Alle sehen erneut in ihre Karten und möglichst unbemerkt nach den Anderen. Dann machen sie nacheinander ihre Ansagen.

Pierre: Ich steige aus…

Jacques: Ich auch…

Céline: Nur noch wir zwei.

Marie: Ich will sehen…

Céline deckt ihre Karten mit kindlicher Begeisterung auf.

Céline: Vier Asse! Wer hat was Besseres?

Marie (geschlagen): Ein Buben-Dreier…

Céline sammelt ihren Pot ein. Alle sehen nach den ihnen verbliebenen Chips.

Céline: Jetzt darf ich also eine Frage stellen…

Unbehagen bei den Anderen, die ihre Chips zählen, besonders bei Marie, die am wenigsten hat.

Céline: Also… Frage an Marie!

Pierre und Jacques sind erleichtert.

Céline: Sie müssen uns die Wahrheit sagen…

Marie (unruhig): Nur zu, fragen Sie…

Céline: Haben Sie schon einmal jemandem etwas gestohlen? Oder einen Ladendiebstahl begangen?

Marie ist fast erleichtert.

Marie: Ja… ein Mal… Um ein Dach überm Kopf zu haben.

Jacques: Sie haben Geld gestohlen, um Ihre Miete zu bezahlen?

Marie: Neeein! Ein Camping-Zelt!

Céline: Ach, gar nicht Geld?

Jacques: Hm… Ich wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas zu stehlen! Das bekommt doch jeder mit, wenn man ein Zelt mitnimmt?

Céline: Ein Zelt…? War das… aus Not? Wussten Sie nicht, wo Sie schlafen sollen?

Marie: Es war für einen Camping-Urlaub. Ich war in einem Einkaufszentrum und bin zur Kasse gegangen, um das Zelt zu bezah­len. Es war aber nicht die richtige Kas­se. Also bin ich zu einer anderen Kasse gegangen und merke plötzlich, dass ich schon durch die Sicherheits­schranke bin. Und wo ich schon mal draußen war…

Pierre: Das war kein richtiger Diebstahl… Du wolltest es ja gar nicht klauen…

Marie: Sagen wir so: ich hab auch nicht kehrt gemacht, um es zu bezahlen… Genau genommen hatte ich vor allem Angst, dass diese Sicherheitsschleuse anfängt zu piepen. Wär doch zu dumm gewesen, mich erwischen zu lassen, wie ich versuche, ein Zelt wieder in den Laden rein zu schmuggeln, wo ich es eben erst unabsichtlich geklaut habe… Wie hätte ich das den Wachleuten erklären sollen! Die sind ja auch nicht gerade mit viel Vorstellungskraft gesegnet…

Die anderen sehen so aus, als ob sie sich das gerade ausmalen.

Céline: War das wirklich das einzige Mal?

Marie: Ja…

Céline: Dann sind sie ja eher eigentlich ehrlich…

Marie: Wissen Sie, die meisten Leute sind nur ehrlich, weil sie nicht den Mut haben, unehrlich zu sein… Mir kam das Risiko immer unverhältnismäßig groß vor, verglichen mit der Befriedigung, die es mir vielleicht verschafft hätte…

Jacques (vom Alkohol enthemmt): …Ihren Mann zu betrügen…?

Marie: Das steht auf einem anderen Blatt…

Jacques: Na dann…

Beginn einer neuen Runde. Gleiches Karussell. Sie machen ihre Einsätze. Diesmal ist Pierre der Dealer und gibt.

Céline: Eine Karte.

Jacques: Weiter…

Marie: Weiter…

Pierre: Zwei Karten…

Sie machen wieder ihre Einsätze.

Céline: Ich gehe mit…

Jacques: Ich erhöhe um einen…

Marie: Ich passe…

Pierre: Ich will sehen…

Sie decken ihre Karten auf.

Pierre (siegessicher): Fullhouse!

Jacques: Flush!

Das Lächeln von Pierre erstarrt. Marie wirft ihm einen ironischen Blick zu.

Marie: Das fängt ja gut an…

Jacques nimmt sich den Pot.

Jacques: Jetzt bin ich mit der Frage dran.

Jetzt sind die drei anderen in der Defensive und zählen ihre Chips.

Jacques: Pierre… (Pierre knickt ein) Haben Sie schon einmal Lust gehabt, jemanden umzubringen?

Pierre: Vor heute Abend, meinen Sie?

Jacques: Und das auch schon ein Stück weit umgesetzt… Sonst zählt das nicht… Wenn man alle Ehemänner, die ihre Frau mindestens einmal in der Woche umbringen wollen, einsperren würde… Die Gefängnisse sind sowieso schon überfüllt…

Céline wirft ihm einen Blick zu, der töten könnte. Pierre versucht, sich zu erin­nern.

Pierre: Nicht, dass ich wüsste… (lacht) Ach doch… Obwohl – nicht wirklich vorsätzlich… Das war noch in meiner Schulzeit. Da war so ne Dicke mit Brille, die wir immer aufgezogen haben. Einmal, im Schwimmbad, haben wir ihre Brille in das tiefe Schwimmerbecken geschmissen. Sie konnte nicht schwimmen. Das hat sie aber in der Aufregung vergessen, ist reingesprungen und wollte ihre Brille rausfischen. Wir haben wie Walfische gelacht. Als sie nach fünf Minuten noch nicht aufgetaucht war, haben wir dann doch den Bademeister gerufen… Haben wir uns totgelacht…! Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern, die Arme…

Céline: Céline Robert…

Pierre (erstarrt): Ach ja, kann gut sein…

Céline: Die Dicke mit der Brille – das war ich…

Pierre: Neee…!?

Céline: Ich hab doch gewusst: Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor…

Jacques mischt sich ein, um die Stimmung etwas zu entspannen.

Jacques: Also… Auf ein Neues.

Nächste Runde. Nicht mehr so schwungvoll. Und in ungemütlichem Schweigen. Céline gibt.

Jacques: Ich bin raus.

Marie: Weiter…

Pierre: Ich bin auch raus.

Céline: Ich erhöhe um zehn…

Marie: Ich gehe mit und erhöhe um 20…

Céline (zieht nach): Ich will sehen.

Céline und Marie decken auf. Marie lächelt zufrieden. Céline lässt den Kopf hängen.

Marie: Ah, diesmal bin ich mit fragen dran… Frage an Céline…

Céline wird nervös.

Marie: Haben Sie schon einmal einen schwerwiegenden beruflichen Fehler begangen, den Sie vor niemandem zugegeben hätten?

Céline fühlt sich gar nicht wohl in ihrer Haut. Sie geht nach vorne an den Rand der Bühne, so als wolle sie ein Geständnis ablegen. Aber statt etwas zu sagen, zieht sie ihr Oberteil aus.

Licht aus.

Das Licht geht wieder an. Céline ist immer noch im Rampenlicht, vorne an der Bühne. Sie hat offensichtlich noch eine Runde verloren.

Marie: Ich wiederhole meine Frage… Haben Sie schon einmal einen schwer-wiegenden beruflichen Fehler begangen…?

Céline will schon ihren Rock ausziehen… hält aber dann inne und antwortet mit fast unhörbarer Stimme.

Céline (sehr leise): Ja…

Marie: Wie bitte?

Céline: Ja!

Marie: Was war das für ein Fehler?

Céline: Also gut… Aber nur, wenn es diese vier Wände nicht verlässt…? Verspro­chen?

Pierre und Marie nicken heuchlerisch.

Pierre: Stellen Sie sich einfach vor, dass Sie in einer Kirche sind und wir Ihnen die Beichte abnehmen…

Die verräucherte Spielhöllen-Atmosphäre passt kaum zu diesem Bild.

Jacques (belustigt): In einer Kirche…?

Marie: Oder einer Synagoge, wenn Ihnen das lieber ist.

Céline: Gibt’s in Synagogen Beichtstühle?

Pierre (ungeduldig): Was weiß denn ich… Stellen Sie sich einfach vor, Sie machen in einer Fernseh-Show mit, Stil Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Céline: Also gut… Es war vor sechs Monaten, ungefähr… Bei einem meiner Firmen-Audits habe ich durchgesetzt, dass ein leitender Angestellter und seine Freun­din, die auch dort gearbeitet hat, entlassen wurden. Ich war fest davon überzeugt, dass die beiden sich aus der Firmenkas­se bedient hatten… Er, der Mann, ist damit nicht fertig geworden, er war 20 Jahre in dem Unternehmen. Er hat Selbst­mord begangen… Zusammen mit seiner Frau…

Pierre und Marie sehen sich voller Genugtuung an. Jetzt haben sie etwas gegen Céline in der Hand.

Céline: Sie haben das Gas aufgedreht…

Pierre (entsetzt): Die Nachbarn von gegenüber…!

Céline: Wie bitte?

Pierre: Ach, nichts…

Céline: Kurz nach ihrer Beisetzung wurde mir klar, dass sie unschuldig waren… Ich hatte da etwas falsch zusammengerechnet. Das habe ich aber niemandem gesagt… Ich habe auch nichts unternommen, um den guten Ruf dieser armen Leute wieder herzustellen… Ich habe mich zu sehr geschämt… (unter Tränen) Normalerweise verrechne ich mich nie.

Jacques tröstet sie.

Jacques (zu Pierre und Marie gewandt) Es geht ihr noch immer nahe, wenn wir darüber sprechen… (versucht weiter, seine Frau zu trösten) Möchtest Du, dass wir nach Hause gehen, Engelchen?

Pierre und Marie werfen sich einen Blick zu, der sagen will, dass sie auch genug haben, denn sie haben ja bekommen, was sie wollten.

Marie: Ja, das reicht, vielleicht…

Céline (fasst sich wieder): Nein, nein ich möchte Ihnen nicht den Abend verder­ben… Es geht schon wieder… (ist auf eine Revanche aus) Und außerdem kann man eine Poker-Partie nicht einfach so abbrechen… (in beunruhigendem Tonfall) Es ist ja noch nicht jeder dran gewesen…

Céline leert ihr Glas in einem Zug, um ihre Schuldgefühle zu vergessen.

Pierre: Na gut…

Jacques gibt. Sie setzen ihr Spiel schweigend fort. Die Stimmung ist beklem­mend.

Marie: Eine Karte…

Pierre: Weiter…

Céline: Ich gehe mit…

Jacques: Ich will sehen…

Sie decken ihre Karten auf.

Céline: Ich habe ein Paar…

Jacques: Drilling…

Marie: Vier Damen…

Pierre (triumphiert): Vier Könige!

Unbehagen bei den Anderen.

Pierre: Jacques…

Jacques erstarrt.

Pierre: Wissen Sie, was der Katze passiert ist, die ich heute Morgen unten in der Mülltonne gefunden habe…

Bestürzung auf Seiten von Marie. Verlegenheit bei Jacques und Céline.

Pierre: Sie müssen uns die Wahrheit sagen…

Auch Jacques geht nach vorne an den Rand der Bühne, als wolle er ein Geständnis ablegen. Aber statt etwas zu sagen, zieht er seine Hose aus und steht in Unterhosen da.

Licht aus.

Das Licht geht wieder an. Jacques ist immer noch im Rampenlicht, vorne am Bühnenrand. Auch er hat offensichtlich noch eine Runde verloren.

Pierre: Also, was war mit der Katze?

Jacques ist drauf und dran, seine Unterhose auszuziehen, doch dann antwortet Céline für ihn.

Céline: Die hatte mir schon drei Pflanzen auf meinem Balkon aufgefressen… Da habe ich die vierte Pflanze gestern mit Arsen besprüht.

Marie bricht in Tränen aus.

Pierre: Du lieber Gott! Das Kätzchen ist tot…

Alle sind peinlich berührt.

Jacques (will die Atmosphäre auflockern): Na, wie wär’s – noch ne letzte kleine Runde? Zur Wiedergutmachung…

Céline: Gut, aber danach geht’s ins Bett.

Die Anderen sitzen mit einem Gesichtsausdruck da, als ob sie nicht wissen, wie sie diese letzte Replik interpretieren sollen.

Neue Runde. Neue Einsätze. Marie gibt. Weitere Einsätze. Noch angespanntere Gesichter.

Pierre: Eine Karte.

Céline: Eine Karte.

Jacques: Weiter.

Marie: Eine Karte.

Jacques setzt seine ganzen Chips ein.

Jacques: All in…

Marie: Ich passe…

Pierre: Ich passe…

Céline: Ich auch…

Jacques sammelt den Pot ein. Er strahlt. Marie merkt mit Entsetzen, dass ihr die wenigsten Chips bleiben.

Jacques: Ich bin dran mit der Frage…

Marie (in Panik): Sie haben uns noch nicht gezeigt, welche Karten Sie auf der Hand haben…!

Jacques: Muss ich ja nicht! Wenn alle aussteigen…!

Er sieht die drei anderen der Reihe nach an, um die Spannung zu erhöhen.

Jacques: Marie hat die wenigsten Chips… Na, dann lass ich’s mal krachen…

Marie verkrampft sich.

Jacques (erbarmungslos): Sind Sie schon mal fremdgegangen?

Marie bleibt stumm. Pierre sieht zu ihr, unruhig.

Céline: Wir haben uns alle an die Spielregeln gehalten. Sie sind uns die Wahrheit schuldig…

Auch Marie geht an den Bühnenrand. Sie zieht ihr Oberteil aus.

Licht aus.

Licht an.

Jacques (erbarmungslos): Haben Sie Ihren Mann schon einmal betrogen?

Marie, immer mehr in Verlegenheit, zieht ihren Rock aus und steht jetzt in Unterwäsche da.

Licht aus.

Licht an.

Jacques (erbarmungslos): Haben Sie Ihren Mann schon einmal betrogen?

Marie ist kurz davor, ihre Unterwäsche auszuziehen, entschließt sich dann aber, lieber zu antworten.

Marie: Ein Mal… Ein einziges kleines Mal… Es war… ein Irrtum.

Pierre ist am Boden zerstört.

Céline (unerbittlich): Ein Irrtum? Wie damals bei dem Zelt?

Marie: Ja, so ungefähr…

Jacques (lässt nicht locker): Man schiebt aber keine Nummer mit einem anderen, wie man eine falsche Telefonnummer wählt…

Céline: Und wenn man sich schon verwählt hat, kann man auflegen, bevor man sich auf ein Gespräch einlässt…

Marie: Sagen wir einfach: ich hab nicht die Geistesgegenwart gehabt, rechtzeitig aufzulegen… Ich bin einfach zu gesprächig am Telefon…

Céline: Haben Sie Ihrem Mann schon mal davon erzählt?

Marie: Nein…

Céline: Warum nicht?

Marie: Ich war durch die Sicherheitsschranke, bevor die Alarmanlage losging… Und ich hab nicht den Mut gehabt, umzukehren und die Rechnung zu bezahlen…

Unbehagen. Pierre und Marie vermeiden den Blick des Anderen.

Jacques: Hmm. Na dann… Wir lassen Sie wohl besser alleine…

Pierre (zu Jacques): Haben Sie geblufft?

Jacques zeigt ihm selbstzufrieden seine Karten.

Jacques: Ich hatte nur so ein kleines Paar…

Erneut Stille. Céline und Jacques stehen auf und bereiten sich zum Aufbruch vor.

Jacques (zu Pierre): Ich habe auch eine letzte Frage an Sie…

Pierre: Das Spiel ist vorbei….

Jacques: Ich hab Ihnen doch auch mein Paar gezeigt…

Pierre: Na, dann fragen Sie…

Jacques: Sind Sie wirklich Schauspieler?

Pierre: Nein, aber ich schreibe Theaterstücke. Während meiner Arbeitszeit… (sieht zu Céline) in der Nationalbibliothek…

Céline: Ich verstehe… Kann ich mit Ihrer Verschwiegenheit rechnen…?

Pierre (unschuldig): Was die Nachbarn von gegenüber betrifft…? Wenn Sie in Ihren Bericht schreiben, dass ich der produktivste Mitarbeiter unseres Hauses bin und man mich auf keinen Fall durch einen Computer ersetzen kann.

Céline schluckt.

Céline: Darf ich mir ein Glas Wasser aus der Küche holen? Ich fühle mich gerade nicht besonders…

Marie: Nur zu…

Céline geht in die Küche.

Jacques: Nächstes Mal laden wir Sie zu uns ein…Dann spielen wir zur Abwechslung Scrabble…

Céline kommt zurück.

Jacques: Also dann, bis bald?

Pierre (zu Céline): Bis morgen…?

Die Nachbarn gehen ab. Pierre und Marie bleiben allein zurück. Sie wagen es kaum sich anzusehen und betrachten stattdessen die Unordnung ringsum. Das Handy von Marie klingelt.

Pierre: Gehst du nicht ran?

Marie: Ich weiß nicht, ob es für dich oder mich ist. Du hast meine Telefonnummer ja an alle deine Kumpels gegeben…

Pierre: Weil ich dir vertraue…

Marie ist verlegen.

Pierre (mit mehr Ernst in der Stimme): Wer war das… deine falsche Nummer?

Marie (verschämt): Jérôme…

Pierre: Schau an… Das hätte ich dem gar nicht zugetraut…

Marie umarmt Pierre reumütig.

Marie: Komm, lass uns noch eine Runde Strip Poker spielen…

Pierre: Ich setze alles auf Gewinn!

Suggestive Musik. Sie fängt einen Strip-Tease an. Er schaut zu, aufgeheizt, und setzt sich, um die Show zu genießen. Er holt eine dicke Zigarre heraus und will sie mit einem Streichholz anzünden, das er aus einer Schachtel herauszieht.

Für einen kurzen Augenblick sieht man Céline hereinspähen… mit einer Gasmaske vom letzten Krieg über dem Gesicht. Dann verschwindet sie wieder.

Marie hört plötzlich auf, gleichzeitig bricht die Musik ab…

Marie (besorgt): Findest du nicht, dass es nach Gas riecht?

Pierre winkt ab und macht das Zündholz an.

Licht aus.

Greller Blitz, gefolgt von einer Explosion.

Ende

Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales, EHESS; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.

Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französisch-sprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 80 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt.

Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. In Papierform können die Texte über die Webseite The Book Edition bestellt werden (zum Preis der entsprechenden Fotokopien).

Zum Übersetzer

Dr. phil. Hans-Joachim Bopst, Studium von Romanistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache; nach über 10 Jahren Lehre an französischen Universitäten seit 1992 in der Übersetzerausbildung an der Universität Mainz / Germersheim tätig; Lehre, Forschung, Veröffentlichungen und Übersetzungen zu Tourismus, Sprachwissenschaft, Didaktik; zahlreiche Gastdozenturen, Vorträge und Workshops an in- und ausländischen Universitäten; seit 2016 Übersetzung der Komödien von Jean-Pierre Martinez.

Was ist eigentlich gemeint, wenn man vom „übersetzten Text“ spricht ? – Beide Texte: der Original-Text und der Text, in dem er sich spiegelt…

Grundlage für die deutsche Übersetzung der Stücke von Jean Pierre Martinez waren Übersetzungsübungen, die unter meiner Leitung am Fachbereich Translations-, Sprach und Kulturwissenschaft (FTSK) der Universität Mainz / Germersheim zwischen 2018 und 2020 stattfanden.

Mein Dank für Kreativität, Korrekturen und Tipps an alle beitragenden Studierenden und Kolleg*innen !

Hans-Joachim Bopst

In deutscher Übersetzung liegen folgende Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez vor:

Die Touristen

Vier Sterne

Freitag, der 13.

Strip Poker

Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez einschließlich der Übersetzungen können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden:
comediatheque.net

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist nach den Bestimmungen über geistiges Eigentum urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung des Werks – insbesondere die Bühnenaufführung – außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes und ohne Einwilligung von Autor und Übersetzer ist unzulässig und strafbar und kann zu hohen Schadensersatzansprüchen führen.

Text-Download: kostenlos

Paris / Heidelberg / Germersheim – März 2020

© La Comédi@thèque – ISBN 978-2-37705-402-2

Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez einschließlich der Übersetzungen können als pdf-Datei gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden oder von ihm als Buch bezogen werden : LA COMÉDIATHÈQUE

Theaterstücke in deutscher Übersetzung. Download. Komödie Humor Theater Zeitgenössisches Theater Komisch Zeitgenössisches französisches Theater Französische Komödie französische KomödienTexte von Theaterstücken pdf gratis herunterladen oder das Buch kaufen

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Freitag, der 13.

Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales, EHESS; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.

Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französisch-sprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 85 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt. Für den Erfolg der Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez steht die Zahl von jährlich über 2.000 Aufführungen seiner Stücke, die inzwischen in 12 Sprachen übersetzt vorliegen – jetzt auch auf Deutsch.

Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. In Papierform (zum Preis der entsprechenden Fotokopien) können die Texte über die Webseite The Book Edition bestellt werden. Die Rechte für die Bühnenaufführung können / müssen über die Verwertungsgesellschaft SACD erworben werden.


Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden.


In deutscher Übersetzung liegen folgende Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez vor:

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist nach den Bestimmungen über geistiges Eigentum urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung des Werks außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes und ohne Einwilligung von Autor und Übersetzer ist unzulässig und strafbar und kann zu hohen Schadensersatzansprüchen führen.

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Wenn Sie ihn öffentlich darbieten möchten – gleich ob auf einer etablierten Bühne oder in einem Laientheater – müssen Sie die Aufführungsrechte beim Autor einholen:

Kontakt: comediatheque.net


Freitag, der 13.

Wenn man im Lauf eines Abends erfährt, dass die beste Freundin mit dem Flugzeug abgestürzt ist und man selbst den Jackpot im Lotto geknackt hat – wie soll man da sein Glück vor dem potentiellen Witwer zurückhalten ?

Jérôme und Christelle haben ein befreundetes Pärchen zum Abendessen eingeladen. Aber nur er taucht auf, allein, vollkommen aufgelöst: eben hat er aus dem Radio erfahren, dass das Flugzeug mit seiner Frau auf dem Flug nach Paris über dem Ärmelkanal abgestürzt ist. Die Gastgeber verfolgen mit dem potentiellen Witwer die Nachrichten – ist seine Frau unter den Überlebenden oder nicht? Zwischendurch stellt sich bei der Bekanntgabe der Lottozahlen heraus, dass Jérôme und Christelle an diesem Freitag, den 13. den Jackpot im Lotto geknackt haben. Fortan müssen sie mit ihrer Freude „hinterm Berg halten“ – verständlich, dass es an diesem bewegten Abend stimmungsmäßig auf und ab geht …

Personen

Jérôme – Christelle – Patrick

Von diesem Stück liegen (französische) Fassungen für die Besetzung 1 Mann und 2 Frauen, 3 Männer oder 3 Frauen vor: https://comediatheque.net

© La Comédi@thèque

Wohnzimmer im Öko-Schick, wovon allerdings nur noch Spuren sichtbar sind. An der hinteren Wand ist ein abstraktes Gemälde auf dem Boden abgestellt, andere Sachen sind schon in Umzugskartons verpackt. Geschmückter Weihnachtsbaum in einer Ecke. Niemand auf der Bühne. Das Telefon klingelt, der Anrufbeantworter schaltet sich ein:

Jérôme (Stimme aus dem Off): Hallo! Richtig, wir sind’s, Jérôme und Christelle. Wir sind gerade in Untersuchungshaft wegen Steuerbetrug, aber ihr könnt uns nach dem Piep eine Nachricht hinterlassen. Wir rufen zurück, sobald wir nicht mehr in Polizeigewahrsam sind. Jetzt seid ihr dran!

Man hört den Piep, danach die vom AB aufgenommene Nachricht:

Nathalie (Off-Stimme): Ähm… Hallo, ihr beiden, ich bin’s, Nathalie. Alles klar bei euch? Ach Quatsch, ihr könnt ja nicht antworten… Also, wir sehen uns wie geplant heute Abend, nur

Jérôme tritt auf. In jeder Hand eine Einkaufstüte, von verschiedenen Supermärkten. Unter dem Arm ein Baguette. Er ist zu bepackt, um das Gespräch noch anzunehmen und hört einfach den Rest der Nachricht ab:

Nathalie (Off-Stimme): … wir kommen eher so gegen halb neun. Mein Flug landet in Beauvais, von dort mit dem Bus rein nach Paris, meinen Koffer zu Hause abstellen und dann mit Patrick zu euch fahren, das kann dauern… Ach, übrigens, vielen Dank für den Koffer. Den bring ich euch bei der Gelegenheit auch gleich zurück. Also, bis dann! Und macht euch bloß keinen Kopf wegen dem Abendessen – alles ganz locker, wie unter guten Freunden, ja?

Jérôme verschwindet mit seinen Tüten in der Küche und kommt mit einem Kanister billigem Wein zurück. Er zieht seine Regenjacke aus und holt eine Karaffe aus einem Schrank. Er macht den Kanister auf, setzt einen Trichter auf die Karaffe und füllt den Wein in die Karaffe ab. Christelle tritt auf.

Christelle: Hallo! Auch schon da? Alles klar?

Jérôme: Nathalie hat angerufen, sie kommen etwas später.

Christelle: Umso besser, wir sind auch nicht grade früh dran… Sie zieht ihren Mantel aus. Ganz schön kalt hier drinnen, findest du nicht? Noch kälter als draußen…

Jérôme: Ich hab die Heizung ausgedreht. Wir wollten doch sparen, oder?

Christelle sieht, was er gerade macht.

Christelle (erstaunt): Was soll das werden?

Jérôme: Na, ich füll den Wein in eine Karaffe, damit er ein bisschen atmet, bevor wir ihn trinken. Ist scheinbar besser.

Christelle: In so einen Spitzen-Wein hättest du aber auch nicht zu investieren brauchen… Wenn es nach mir ginge, würde ich eher am Wein als an der Heizung sparen…

Jérôme: Ist nur Landwein. Frag mich nicht, aus welchem Land. Auf jeden Fall nicht aus der Europäischen Gemeinschaft. Ein Euro 24 Cent der Liter, beim Discounter. Sonderangebot zu Weihnachten…

Christelle: Und warum füllst du ihn ab?

Jérôme (ironisch): Den Tipp hat mir der Sommelier dort gegeben. Damit dieser kostbare Nektar an der Nase alle Fruchtaromen von roten Beeren und Vanille zeigen kann. Ohne im Abgang eine leichte Traubenbetonung zu verleugnen… (Wieder ernsthaft) Aber im Ernst – würdest du den Kanister auf den Tisch stellen?

Christelle: Stimmt natürlich …

Jérôme: Außerdem kann es diesem Pennerglück nicht schaden, wenn man ihn etwas lüftet. Landwein ist wie Leitungswasser: besser, man dekantiert ihn, bevor man ihn trinkt. Damit die giftigen Dämpfe noch schnell abziehen und die Schwermetalle sich am Boden absetzen können…

Christelle: Hast du alles besorgt?

Jérôme: Ich hab eine Artischockenpastete von Frosta gekauft, muss man nur noch auffrosta, ähm, auftauen und fertig.

Christelle: Eine Artischockenpastete?

Jérôme: War auch im Angebot… Zusammen mit einem Salat…

Christelle: Aha… Na, ich bereite dann schon mal den Aperitif vor.

Christelle holt Gläser.

Christelle: Warst du beim Jobcenter?

Jérôme: Jep.

Christelle: Und?

Jérôme: Die haben mir ein Praktikum angeboten…

Christelle: Ein Praktikum?

Jérôme: Bei einem Restaurator.

Christelle: Restaurateur? Das ist ja super… Das ist doch genau das, was du wolltest.

Jérôme: Ein Restaurator… von Bildern!

Christelle: Bilder restaurieren? Aber du hast doch auf der Hotelfachschule gelernt!

Jérôme: Willkommen beim Jobcenter die bringen dich weiter. Nur leider ganz woanders hin. Die müssen da was verwechselt haben…

Christelle: Aber du hast ihnen doch gesagt, dass du Chefkoch warst. Ist ihnen nichts Besseres dazu eingefallen?

Jérôme: Die haben nur gemeint: „Heutzutage müssen Sie vielseitig einsetzbar sein.“

Christelle: So was von bescheuert! Erst Rahmschnitzel, dann Rahmen schnitzen. Erst in der Nobelbleibe, dann am Hobel bleiben…

Jérôme: Keine Sorge, zuhause werde ich immer dein Meisterkoch bleiben.

Christelle: Meisterkoch… von wegen. Zuhause kriegst du’s ja nicht mal fertig, etwas aufzutauen.

Jérôme: Das ist jetzt aber fast so was wie ein versteckter Vorwurf…

Christelle: Schon gut. Bist du hingegangen?

Jérôme (mit Blick auf das an die Wand gelehnte Bild): Naja, ich hab bei der Gelegenheit gleich mal unser Gemälde schätzen lassen…

Christelle: Ach, diesen Ölschinken, den du vor zehn Jahren von deinem Freund gekauft hast – diesem Studenten der Schönen Künste, dem du für seine Schöpfung auch noch ein Vermögen gezahlt hast…

Jérôme: Das war kurz nach seinem ersten Selbstmordversuch. Ich wollte ihm auf die Beine helfen. Und dann habe ich mir gesagt, dass das Bild mit der Zeit an Wert gewinnt…

Christelle: Wenn wir damit wenigstens die Heizkosten bezahlen können… Ja, und auf wieviel hat er dieses Meisterwerk geschätzt, dein Restaurator?

Jérôme: Gute hundert Euro.

Christelle: Und du hast es für 1.500 gekauft!

Jérôme: Warte mal ab. Du weißt doch, was für einen Run es nach Van Goghs Tod auf seine Bilder gegeben hat.

Christelle: Dann brauchen wir ja nur noch zu hoffen, dass dein genialer Freund seinen Selbstmord doch noch hinkriegt, bevor wir hier erfroren sind… (seufzt) Wir können nicht einmal davon träumen, dass der Rahmen an Wert gewinnt – ist ja keiner dran!

Jérôme: Tja, das ist so eines von den Problemen bei moderner Malerei…

Christelle: Ich hoffe ja, dass Patrick uns wenigstens die 1.000 Euro zurückzahlt, die du ihm so großzügig geliehen hast. Dann könnten wir das Unterstellen von unseren Möbeln bezahlen, solange wir auf die Sozialwohnung warten, die uns dein sozialdemokratischer Cousin im Rathaus versprochen hat… Übrigens: hast du ihn mal daran erinnert?

Jérôme: An unsere Wohnung?

Christelle: Ach was – an die 1.000 Euro!

Jérôme: Ich frage mich, ob das jetzt der richtige Augenblick ist… Die haben es auch nicht leicht, weißt du. Wo die Telekom Nathalie in dieses Call-Center nach Straßburg versetzt hat – das musst du dir mal vorstellen! Straßburg! Die war doch immerhin Chefin der Personalabteilung, mit Büro am Pariser Seine-Ufer. Da kann Patrick mit seinem Gehalt als Grundschullehrer in Teilzeit nicht mithalten…

Christelle: Na und ich? Ich hab drei halbe Stellen! Und das reicht nicht mal, um die Nebenkosten zu bezahlen!

Jérôme: Okee, ich rede mit ihm, heute Abend!

Das Telefon klingelt.

Christelle: Ach, das sind sie bestimmt… (Sie nimmt den Hörer ab) Hallo…? Alles klar bei dir, Patrick! Ach so… Nee, überhaupt kein Problem, Patrick… Ok, wir warten solange… Bis gleich, Patrick… (Sie legt auf) Das war Patrick…

Jérôme: Das hab ich mir irgendwie gedacht, als du gleich als Erstes gesagt hast: „Ach, Patrick.“ Das musste er einfach sein…

Christelle: Nathalies Flug hat Verspätung. Er kommt allein, mit dem Wagen…

Jérôme: Und sie?

Christelle: Er hat ihr auf ihre Sprachbox gesprochen, dass sie direkt hierher kommen soll. Den Aperitif trinken wir dann ohne sie.

Jérôme: Was für eine Schnapsidee, von Straßburg nach Paris zurück zu fliegen!

Christelle: Wo sie auch noch 60 km vor Paris landet. Aber klar, mit Ryan Air kostet der Hin- und Rückflug weniger als ne Metro-Fahrkarte…

Jérôme geht zu ihr und nimmt sie in die Arme.

Jérôme: Hey, wir kommen schon wieder klar.

Christelle: Ja, sicher. …. Und solange wir zusammen sind, kann uns eh nichts Schlimmes passieren, hab ich recht?

Jérôme: Ich trinke lieber Landwein mit dir als Edel-Schampus mit wem auch immer.

Christelle: Ich hab so ein Gefühl, dass sich das Glück wenden wird. Zu Weihnachten. Und heute ist doch auch Freitag, der 13., stimmt’s?

Jérôme: Vielleicht gewinnen wir im Lotto.

Christelle: Wir spielen doch gar nicht…

Jérôme: Ich hab neulich, als wir deine Mutter in Lille besucht haben, in einem Kiosk Lotto gespielt. Hab meine Bewerber-Nummer vom Job-Center getippt.

Christelle: Da geht’s mir ja gleich besser…

Sie küssen sich.

Jérôme: Und Patrick? Ist der schon auf dem Weg?

Christelle: Der fährt seit ner Viertelstunde um unseren Häuserblock, auf der Suche nach einem Parkplatz.

Jérôme: Ein Parkplatz, in diesem Viertel, um diese Zeit…

Christelle: Eins steht fest: wenn die sich einen Smart zugelegt hätten wie wir, statt diesem fetten Mercedes mit 4-Rad-Antrieb, dann wäre das Einparken leichter…

Jérôme: Aber wie sollen sie das mit ihren zwei Kindern anstellen… Der Smart hat doch nur zwei Sitze.

Christelle: Die Kids sind noch klein, da hätte ein Twingo auch schon gereicht! Wo sie angeblich Geldprobleme haben…

Jérôme: Zuerst sollte er mal lernen, wie man einen Laster einparkt…

Christelle fängt an, die Flaschen auf den Tisch zu stellen. Es läutet an der Tür.

Jérôme: Na, so schlecht fährt er ja gar nicht… Jetzt hat er seinen 5-Tonner doch noch untergebracht. Bleib sitzen, ich mach ihm auf…

Jérôme geht die Türe aufmachen.

Jérôme: Hallo, Patrick! Na, was ist n los mit dir? Du bist ja leichenblass? Man könnte glauben, du hast einen Wiedergänger gesehen…

Patrick kommt mit Jérôme rein. Er hält eine Flasche Champagner in der Hand und sieht tatsächlich wie das heulende Elend aus.

Patrick (tränenerstickt): Du weißt nicht, wie recht du hast.

Christelle kommt näher, verstört.

Christelle: Was ist denn passiert, Patrick?

Patrick: Ich wollte gerade das Autoradio ausmachen und aussteigen… da kam es in den Nachrichten… (stockt) Das Flugzeug mit Nathalie ist über dem Meer abgestürzt…

Jérôme: Über dem Meer?

Christelle: Bist du sicher, dass es ihr Flug ist?

Jérôme: Der Flug aus Straßburg?

Patrick: Es war ein Billigflug mit Zwischen-Stopp in Brüssel und London. Sie haben die Flugnummer und den Namen der Fluggesellschaft genannt. Es gibt keinen Zweifel. Die Maschine ist über dem Ärmelkanal von den Bildschirmen verschwunden…

Patrick bricht in Schluchzen aus. Jérôme und Christelle schauen sich hilflos an, sie wissen nicht, was sie sagen sollen.

Christelle: Hör mal, die finden sie vielleicht noch…

Jérôme: So groß ist der Ärmelkanal auch nicht…

Christelle: Der Pilot hat vielleicht eine Wasserlandung hingekriegt.

Jérôme: Zwischen zwei Öltankern…

Christelle: So was hat es schon gegeben…

Jérôme: Kommt nicht jeden Tag vor, aber ist schon mal da gewesen

Patrick (mit schwacher Stimme): Meint ihr wirklich…

Christelle: Was haben sie gesagt, im Radio? Haben sie gesagt, dass es keine Überlebenden gibt?

Patrick: Das wissen sie noch nicht…

Christelle: Na, siehst du!

Jérôme: Und außerdem sind Flugzeuge immer noch das sicherste Verkehrsmittel! Laut Statistik liegt deine Chance draufzugehen bei eins zu einer Million. Ungefähr die gleiche Chance wie auf einen Sechser beim Lotto, also…

Christelle schaut ihn fassungslos an.

Patrick (verzweifelt): Und dass es ausgerechnet Nathalie treffen musste… Ich hab ihr noch gesagt, sie soll nicht an einem Freitag, den 13. fliegen…

Jérôme: Na, es ist nur der Ärmelkanal… die Black Box fischen sie bestimmt raus…

Patrick zuckt zusammen.

Patrick: Mein Gott, was soll aus mir werden, ohne sie? Mit den zwei Kindern. Und dem Darlehen auf dem Haus…

Jérôme und Christelle blicken sich an und wissen nicht, was sie tun sollen.

Patrick (pathetisch): Und euch schulden wir auch noch 1000 Euro…

Christelle: Ach, was redest du da? Das ist doch jetzt nicht dringend.

Patrick reicht Jérôme die Flasche Champagner.

Patrick: Hier, ich hab euch als Dankeschön eine Flasche Champagner mitgebracht. Wenn ich geahnt hätte…

Patrick hält Jérôme seine Flasche Champagner hin.

Jérôme: Veuve CliquotVoll der Luxuschampagner! Mann! Du hast dich nicht lumpen lassen!

Patrick: Es ist ein Alptraum… Sagt mir, dass es nicht wahr ist!

Jérôme (plötzlich zweifelnd): Aber das ist jetzt alles nicht nur ein übler Scherz?

Christelle sieht ihn missbilligend an.

Christelle: Komm, Patrick, setz dich erst mal her. Wir machen den Fernseher an, da kommen gleich Nachrichten. Geht das für dich?

Christelle schaltet das Fernsehen ein, wo gerade Werbeeinblendungen laufen.

Stimme (aus dem Off): Und der Unterschied zwischen den zwei Särgen? Der Preis! Leclerc – weil das Leben schon teuer genug ist… Jipijeijei.

Christelle wechselt hastig den Sender.

Stimme (aus dem Off): Sternzeichen Löwe – heute ist ein rabenschwarzer Tag für Sie…

Patrick: Ich bin Löwe…

Stimme (aus dem Off): Sie sollten besser nicht verreisen…

Christelle: Aber das warst doch nicht du im Flieger…

Stimme (aus dem Off): Wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, nehmen Sie lieber den Zug als das Flugzeug…

Patrick: Nathalie ist auch Löwe.

Christelle: Ich glaub, wir schalten besser das Radio ein.

Stimme (aus dem Off): … An diesem Freitag, den 13. warten im Jackpot 60 Millionen Euro auf die glücklichen Gewinner. Und hier ist auch schon die Ziehung der Lottozahlen…

Christelle wechselt den Sender.

Stimme (aus dem Off): Noch gibt es keine neuen Nachrichten von Flug Nummer 32 der Fluggesellschaft Discount Airways auf ihrem Flug von Straßburg nach Paris-Beauvais, mit Zwischen-Stopp in Brüssel und London.

Patrick: Seht ihr, das ist ihr Flug…

Stimme (aus dem Off): Nach derzeitigem Kenntnisstand hat der Pilot ein Notsignal gesendet, kurz bevor die Maschine von den Radarschirmen verschwand. Wir werden Sie selbstverständlich über den Stand der Dinge informieren, sobald uns nähere Einzelheiten vorliegen…

Christelle macht das Radio aus.

Christelle: Wir müssen abwarten… etwas Anderes können wir jetzt eh nicht tun… Ich schenk dir mal einen Schluck ein, das wird dich ein bisschen ablenken.

Jérôme: Wir werden doch jetzt nicht den Champagner aufmachen …?

Patrick (bemerkt die Karaffe): Ich nehme einen Schluck Wein, der ist eh schon offen.

Christelle: Bist du sicher? Willst du nicht lieber was Anderes?

Patrick: Nee, schon in Ordnung, ehrlich…

Jérôme schenkt ein Glas Wein ein und reicht es Patrick, der es auf einen Zug leertrinkt. Die anderen beiden sehen beunruhigt zu.

Patrick (zu Jérôme): Bei dem, was ich durchmache, habe ich keine Freude mehr, nicht mal mehr an so einem Spitzenwein…

Jérôme: Mach dir nicht so viele Sorgen, Kumpel…

Patrick (plötzlich in Panik): Oh Gott, meine Mutter!

Christelle: War die auch in der Maschine?

Patrick: Nee, die ist zu Hause und die Kinder sind bei ihr. Ich hoffe nur, die sitzen nicht vorm Fernseher!

Patrick holt hastig sein Handy heraus und tippt die Nummer seiner Mutter.

Patrick: Hallo Mama? Ja, ich weiß, ich hab’s gehört… Sag mal, die Kinder sind nicht vorm Fernseher, oder? Die schlafen schon? (seufzt vor Erleichterung) Gut. Du, ich hab jetzt wirklich keine Lust, darüber zu sprechen… Ich ruf dich später nochmal an, ok? … Bitte, Mama, erspar mir dein Beileid… Nur zur Erinnerung: sie ist noch nicht tot… Ja, wahrscheinlich, aber sicher ist es noch nicht, also, komm mir jetzt nicht damit… Du hast sowieso nie ein gutes Haar an ihr gelassen und mir schon tausend Mal gesagt, dass sie nicht die richtige Frau für mich ist und ich eine bessere hätte finden können… Ach, weißt du was, Mama, ich scheiß auf deine Meinung!

Patrick legt wütend auf. Jérôme und Christelle sehen ihn an, etwas unangenehm berührt und doch mitfühlend.

Patrick: Sie hat Nathalie noch nie leiden können… Innerlich jubelt sie wahrscheinlich…

Christelle: Sag doch so was nicht…

Patrick: An unserem Hochzeitstag hat sie vorgegeben, dass mein Vater krank sei – nur damit sie nicht zur Trauung kommen musste.

Jérôme: Aber er war doch wirklich krank und ist ein paar Monate später gestorben…

Patrick: Ja, genau an dem Tag, als Maxime auf die Welt gekommen ist… auch extra, um mir eins auszuwischen…

Christelle: Pat, willst du ein Beruhigungsmittel? Oder einen Schnaps?

Patrick: Tut mir leid, dass ich euch mit diesen Familiengeschichten auf die Nerven gehe… Ich will euch nicht den Abend verderben. (Er steht auf und will gehen). Ich mach mich mal lieber auf den Weg …

Christelle: Ach, komm jetzt, Patrick! Wir sind doch Freunde? Wozu hat man Freunde, wenn sie einem in solchen Momenten nicht beistehen?

Patrick (setzt sich wieder hin): Ich hab gewusst, dass ich mich auf euch verlassen kann… Und, ehrlich gesagt, habe ich keine große Lust, allein zu Hause vor dem Weihnachtsbaum zu hocken, mir die Nachrichten reinzuziehen und jedes Mal mit dem Schlimmsten zu rechnen…

Jérôme: Mal hören, ob’s schon Neues gibt…

Patrick: Ich weiß nicht, ob ich das wissen will. (Pause) Na, gut, geh schon, schalt ein…

Christelle: Ok. (Christelle schaltet das Radio wieder ein.)

Stimme (aus dem Off): Die in die Nähe der vermeintlichen Unfallstelle entsandten Suchflugzeuge haben einen größeren Kerosin-Teppich gesichtet. Noch kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob es sich dabei um Treibstoff der Maschine der Fluggesellschaft Discount Airways handelt, die, wie gemeldet, vor etwa einer Stunde über dem Ärmelkanal abgestürzt ist. Wir erwarten in Kürze einen Bericht unseres Sonderkorrespondenten, der sich an Bord eines der Rettungshubschrauber befindet… In der Zwischenzeit geben wir noch einmal die Lottozahlen bekannt…

Patrick: Einen Kerosin-Teppich… Das heißt doch nichts anderes, als dass die Maschine abgestürzt ist… Wie soll es da noch Überlebende geben…?

Jérôme und Christelle wissen nicht, wie sie seine Stimmung aufhellen sollen.

Stimme (aus dem Off): … Die Gewinnzahl lautet: 1-5-2-7-9-6, Zusatzzahl 10…

Jérôme erstarrt.

Christelle: Wenn der Pilot eine Wasserlandung fertiggebracht hat, sind bestimmt ein paar Passagiere aus der Maschine rausgekommen, bevor sie untergegangen ist…

Stimme (aus dem Off): Der glücklichen Gewinnerin, dem glücklichen Gewinner winkt das hübsche Sümmchen von 60 Millionen Euro. Damit lässt sich gelassen in die Zukunft blicken… (Christelle macht das Radio aus.)

Jérôme: Das ist ja…

Patrick: Was?

Jérôme: Ach, nichts, nichts…

Christelle: Du bist doch auch schon geflogen und kennst die Sicherheitsanweisungen, die von den Stewardessen vor dem Start demonstriert werden… die Sauerstoffmasken, die automatisch herunterfallen, die Schwimmwesten unter den Sitzen, die Notausgänge vorne und hinten, die Notrutschen etc. Da gibt es doch ein typisches Vorgehen bei Gefahr, da ist für alles vorgesorgt…

Jérôme holt mehr oder weniger unauffällig seinen Ausweis vom Jobcenter aus der Tasche und sieht nach.

Patrick: Das Flugpersonal – denen hört doch sowieso niemand zu…

Jérôme (zu Christelle, die ihm aber nicht zuhört): Ey, ich fass es nicht!

Patrick: Sag mal, Jérôme, hast du schon mal aufgepasst, was die Stewardessen da immer runterleiern?

Jérôme (vollkommen geistesabwesend): Hä? Was? Wer?

Patrick (zu Christelle): Siehst du? Hab ich’s dir nicht gesagt?

Christelle (zu Jérôme): Die Stewardess – was demonstriert die vor dem Start? Bei… Druckabfall in der Maschine?

Jérôme (flippt aus): Die… Die Fallschirme unter den Sitzen… der Schnorchel, der von der Decke fällt… die Schwimmflossen im Handschuhfach, meinst du das?

Christelle wirft Jérôme einen vorwurfsvollen Blick zu.

Christelle (zu Patrick): Und angerufen hat dich niemand?

Patrick: Nathalie liegt bestimmt schon auf dem Meeresgrund – wie soll sie mich da anrufen?

Jérôme hat völlig geistesabwesend den Fernseher wieder eingeschaltet.

Stimme (aus dem Off): … Hier noch einmal die Gewinnzahlen der heutigen Lotto-Ziehung Freitag, den 13.: 1-5-2-7-9-6. Zusatzzahl: 10. Gewinnsumme 60 Millionen Euro.

Jérôme sieht noch einmal genau auf seinem Ausweis vom Jobcenter nach.

Jérôme: Boah. Ich krieg mich nicht mehr…

Christelle macht den Fernseher wieder aus.

Christelle: Nee, ich wollte sagen… Die haben doch bestimmt ein psychologisches Beratungs-Team, so was wird doch immer gleich eingesetzt… um die Angehörigen zu verständigen… und sie zu betreuen und so…

Jérôme (zu Christelle): Du, kann ich dir was sagen?

Christelle: Was denn?

Jérôme: Nicht hier…

Das Handy von Nathalie schnarrt.

Christelle: Siehst du, das sind die bestimmt…

Patrick: Ich weiß nicht, ob ich das wissen will…

Das Handy schnarrt weiter.

Christelle: Soll ich für dich rangehen?

Patrick: Ja, sei so gut…

Christelle nimmt das Gespräch an.

Christelle: Hallo… Ja… Nein… Ach so, klar … Wirklich?… Nein, nicht nötig… Doch, doch, wir sind natürlich überglücklich. Ok, danke…

Christelle legt auf.

Patrick: Und?

Christelle (wie in Trance): Das war der Frauenarzt von Nathalie… Wegen der Untersuchungsergebnisse…

Patrick: Und…?

Christelle: Na, sie ist wirklich schwanger…

Patrick (dem Zusammenbruch nahe): Das ist jetzt nicht wahr…

Christelle: Soll ich dir noch ein Glas Wein einschenken?

Patrick: Ja, gerne…

Christelle füllt Patricks Glas nach.

Jérôme (zu Christelle): Du … ich muss dir unbedingt was sagen…

Christelle (zu Jérôme): Muss das wirklich jetzt sein?

Jérôme: Ehrlich, es ist total wichtig…

Patricks Blick fällt auf das Ölgemälde.

Patrick: Schon merkwürdig, dieses Bild, findet ihr nicht auch?

Christelle: Tja… Doch, schon ein wenig, ja…

Christelle reicht ihm das Glas rüber.

Patrick: Der Typ, der das gemalt hat, muss echt depressiv gewesen sein. (Zu Jérôme) Ist das ein Freund von dir?

Jérôme: Ja, naja… Er kommt aus Ungarn, glaub ich.

Patrick: Das sieht man. (Zu Jérôme) Hat er sich umgebracht?

Christelle: Nee, noch nicht, leider…

Patrick leert sein Glas in einem Zug.

Patrick (zu Christelle): Schenkst du mir noch ein Glas ein?

Christelle: Du solltest vielleicht nicht so viel trinken, weißt du… Wo Leben entsteht, gibt es doch auch Hoffnung … Vergiss nicht, du wirst noch mal Vater…

Jérôme (weiß nicht, was er sagen soll): Unverhofft kommt oft.

Christelle durchbohrt ihn mit Blicken.

Jérôme (zu Christelle): Ich muss jetzt wirklich mit dir reden…

Patrick: Du hast recht, mir dreht sich alles. Ich geh mal raus auf euern Balkon, ein bisschen frische Luft schnappen.

Christelle: Soll ich mitkommen?

Patrick: Ist lieb von dir. Aber ich brauche einen Moment für mich.

Christelle: Ok.

Patrick geht auf den Balkon. Jérôme wartet ungeduldig darauf, dass er endlich draußen ist.

Jérôme: Du wirst nie draufkommen, was uns bevorsteht…!

Christelle (mit den Gedanken anderswo): Schwanger… Das kann doch nicht wahr sein?

Jérôme: Du bist schwanger? Das ist doch toll! Vor einer Viertelstunde wär das für mich noch eine Naturkatastrophe gewesen, ehrlich gesagt. Aber jetzt sehe ich alles durch die rosarote Brille. Und weißt du auch, warum ?

Christelle: Aber das bin doch nicht ich, die schwanger ist!

Jérôme: Ach, so. Aber was mich betrifft…

Christelle: Wieso hört ihr Männer nie zu, wenn man mit euch redet…

Jérôme: Also, wer ist denn jetzt schwanger?

Christelle: Nathalie! Begreifst du nichts? Da erfährt Patrick, dass seine Frau mit dem Flugzeug abgestürzt ist und dann im selben Atemzug, dass Nathalie ein Kind von ihm erwartet hat…

Jérôme: Woher willst du wissen, dass es seins ist?

Christelle (verdrossen): Weiß ich auch nicht… Weibliche Intuition…? Die ersten zwei waren von ihm und er ist ihr Mann – da ist mir sein Name irgendwie als erstes eingefallen. Ist bescheuert, oder?

Jérôme: Egal, darum geht’s jetzt gar nicht… Weißt du, was?

Christelle: Was denn?

Jérôme: Wir haben gewonnen!

Christelle (mit Blick zum Balkon): Mein Gott!

Jérôme: Da ist man erst mal baff, was?

Christelle: Der Patrick! Der klettert übers Balkongeländer.

Jérôme dreht sich um und sieht, was los ist.

Jérôme: Booah, auch das noch! Wie lange will er uns noch nerven!… Soll er doch springen – dann haben wir unsere Ruhe. Wobei… wir sind ja nur im ersten Stock, da holt er sich höchstens ein paar Kratzer…

Christelle geht zum Fenster, ohne auf ihn zu hören.

Christelle: Patrick, ich flehe dich an! Tu’s nicht! Denk an deine Kinder! Es ist Weihnachten…

Patrick: Versprich mir: wenn ich springe, dann kümmerst du dich um sie. Nicht, dass das Jugendamt sie in die Hände kriegt, versprochen?

Christelle: Ja, ich verspreche es dir…

Jérôme: Das hat uns gerade noch gefehlt.

Christelle: Ich meine: nein, spring nicht! (zu Jérôme) Sag doch du auch mal was!

Jérôme: Um die Kinder kann sich doch deine Mutter kümmern, oder?

Patrick: Dann lieber das Jugendamt!

Christelle: Ich glaub, wir rufen besser die Feuerwehr…

Jérôme: Nee, schon gut, es brennt doch nirgends. Ich krieg ihn schon von da runter…

Patrick: Bleibt, wo ihr seid, sonst springe ich.

Christelle: Was machen wir jetzt?

Jérôme: Warte, ich komm gleich wieder…

Christelle: Lass mich jetzt bloß nicht allein!

Jérôme verschwindet im Flur.

Patrick (pathetisch): Ich stürze mich auch in die Tiefe. Wie ein Flugzeug ohne Tragfläche. Bald sind Nathalie und ich wieder vereint.

Christelle: Glaubst du wirklich, dass sie das von dir erwartet? Ich meine, ihr wäre es bestimmt lieber, dass du am Leben bleibst und dich um eure Kinder kümmerst. Und dann stell dir mal vor: wenn sie überhaupt nicht tot ist: sie klingelt unten und du liegst zerschellt unter unserem Balkon.

Es klingelt. Nicht an der Wohnungstür, sondern auf Patricks Handy.

Christelle: Ah, siehst du? Vielleicht ist sie’s ja… Worauf wartest du noch, geh ran…

Patrick (zögernd): Soll ich…?

Christelle (in die Richtung, in die Jérôme gegangen ist): Hoffentlich ist das nicht noch mal die Frauenärztin, die jetzt damit kommt, dass es Zwillinge sind…

Patrick: Ja, am Apparat… Und da gibt es wirklich keinen Zweifel?… Gut. Nein, keine Sorge… Ok, danke, ich hab das Handy immer bei mir.

Christelle: Und? Neuigkeiten?

Patrick: Das waren sie, die Leute vom psychologischen Beratungs-Team.

Christelle: Und? Was sagen sie!

Patrick: Sie haben Überlebende gefunden… Vielleicht ist Nathalie dabei…

Christelle: Das ist ja super! Siehst du? Stell dir vor, du wärst ausgerechnet jetzt gesprungen, in deiner Verzweiflung…

Jérôme kommt wieder.

Jérôme: Dann hätte er sich wenigstens den Knöchel verstaucht…

Christelle: So! Jetzt komm schon runter… (zu Jérôme) Das psychologische Beratungsteam hat ihn gerade angerufen. Sie haben Überlebende gefunden.

Jérôme : Ich weiß…

Christelle: Ach, hast du’s mitbekommen?

Jérôme: Das war ich, der angerufen hat.

Christelle: Wie bitte?

Jérôme: Irgendwie musste man ihn ja von da runterkriegen.

Patrick kommt wieder ins Wohnzimmer.

Patrick: Du hast recht… Ich muss einfach dran glauben. Ich spüre, dass Nathalie noch am Leben ist. Ich weiß es einfach.

Christelle blickt Jérôme strafend an.

Christelle: Du darfst jetzt aber nichts überstürzen. Woran wollen sie Nathalie unter den Überlebenden erkennen?

Patrick: Sie konnten eine Frau lokalisieren, die sich an einem Koffer festgehalten und „Patrick, Patrick“ geschrien hat.

Christelle sieht noch einmal böse zu Jérôme.

Patrick: Woher wissen die eigentlich, dass ich Patrick heiße?

Christelle: Frag ich mich auch.

Jérôme: Also, ich mach jetzt die Balkontür zu, ok? Lass ihn bloß nicht wieder in die Nähe!

Christelle: Und was sagen wir ihm, wenn das echte Beratungs-Team anruft?

Jérôme: Dass an Bord der Maschine bestimmt mehrere weibliche Passagiere waren, deren Ehemann Patrick heißt…

Patrick: Ich hab komplett vergessen, die Telefonnummer zu speichern… Ich wollte die nämlich noch fragen, ob ich vor Ort bei der Suche helfen kann. Na, ich drücke einfach auf Wahlwiederholung…

Christelle (sehr bestimmt): Das würde ich nicht machen, an deiner Stelle …

Erstaunter Gesichtsausdruck von Patrick.

Christelle: Weißt du, die sind sicher vollkommen überlastet. Die rufen garantiert an, sobald sie was Genaueres wissen…

Jérôme: Ich muss mit dir reden.

Christelle: Na, sag schon.

Jérôme: Nicht hier.

Christelle: Wir können ihn nicht allein lassen. Stell dir nur vor, die Polizei ruft an, um ihm zu eröffnen, dass Nathalie umgekommen ist – dann wird er noch mal versuchen, vom Balkon zu springen.

Jérôme: Dann gehen eben wir auf den Balkon!

Christelle: Ich bin enttäuscht von dir, Jérôme … Echt enttäuscht… Ich dachte, dass du mehr für deine Freunde übrig hast…. Es geht um Patrick! Deinen Schulkamerad! Und um Nathalie, meine beste Freundin! Sie waren unsere Trauzeugen. Da kann man doch mal einen Abend opfern, um ihm bei so einem Unglück beizustehen.

Jérôme: Wir haben im Lotto gewonnen.

Christelle: Wie viel?

Jérôme: 60 Millionen.

Patrick: Ich könnte doch noch ein Glas Wein vertragen. Das ist alles zu viel für mich…

Christelle (schroff): Du hast ja allmählich mitgekriegt, wo die Karaffe steht! Oder sollen wir den ganzen Kanister servieren, samt Strohhalm?

Patrick ist betroffen.

Patrick: Na gut, ich verzieh mich dann wohl besser. Ich bin euch schon genug auf die Nerven gegangen.

Christelle reißt sich zusammen.

Christelle: Tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint. (Sie schenkt ihm noch ein Glas Wein ein) Das geht uns allen an die Nieren… Aber du musst auch was essen, sonst kriegst du’s noch mit dem Magen… (Leise zu Jérôme, während Patrick sein Glas hinunterkippt) Ich glaube, das ist jetzt der richtige Moment, um ihm deine Artischocken-Pastete zu verabreichen…

Jérôme geht kurz in die Küche.

Christelle: Sie war uns ja auch sehr nahe gestanden. Deswegen sind wir von Nathalies Tod so erschüttert. (Korrigiert sich) Ähm,… ich meine, von der entfernten Möglichkeit, von ihr Abschied nehmen zu müssen… Andererseits … man muss loslassen können? Man lebt nur einmal.

Jérôme kommt mit einem Stück Artischocken-Pastete zurück, das er Christelle gibt.

Christelle (gibt die Pastete an Patrick weiter): Die guten Dinge im Leben muss man sich einfach gönnen… (Patrick beißt in das Stück hinein)

Patrick: Nicht übel. Was ist das?

Christelle (schwindelt): Ums Essen hat sich diesmal Jérôme gekümmert. Was war das nochmal, Jérôme?

Patrick (mit vollem Mund): Schon gut. Solange es nichts mit Artischocken ist. Das ist das einzige Zeug, gegen das ich allergisch bin. Ich weiß nicht mal mehr, wie das schmeckt. Ich hab’s nur ein einziges Mal gegessen, bei meiner Großmutter in der Bretagne – und bin dann in der Notaufnahme aufgewacht…

Die beiden anderen sehen sich bestürzt an.

Patrick: Der Vorteil bei Artischocken ist, dass man es gleich merkt, wenn man eine isst…

Christelle reißt ihm das Pasteten-Stück aus der Hand.

Christelle: Zeit fürs Dessert, nicht?

Patrick ist verdutzt und kämpft gleichzeitig mit Magenschmerzen.

Patrick: Ich glaub, ich muss kotzen… Normalerweise esse ich alles. Vor allem so etwas Leckeres… Das muss der Stress sein…

Er entfernt sich Richtung Toilette. Kaum sind sie alleine, platzt Christelle vor Aufregung.

Christelle: Bist du sicher?

Jérôme (zeigt seinen Ausweis): Hier, die Nummer vom Jobcenter! Genau die ist drangekommen! Haben sie eben im Radio durchgegeben! Hast du’s nicht gehört? 60 Millionen… stell dir vor, was wir alles damit machen können! Davon können wir uns einen Airbus kaufen, zumindest einen gebrauchten, gut erhaltenen…

Christelle: Das ist der absolute Wahnsinn!

Jérôme schenkt zwei Gläser Wein ein und gibt eins Christelle, um mit ihr anzustoßen.

Jérôme: Hier, trink ein letztes Mal Pennerglück vom Discounter, nur damit du dich erinnerst, wie das schmeckt. So bald wirst du so was nämlich nicht mehr trinken wollen… (Sie stoßen an)

Christelle: Der Wahnsinn! Und das ist auch kein Witz?

Jérôme: Ich kann’s ja selber nicht glauben. Aber ich hab die Nummer drei Mal nachgeprüft. Ich schwör dir, wir haben gewonnen. Den Jackpot, an einem Freitag, den 13.

Patrick kommt zurück.

Christelle: Du errätst nie, was wir gerade erfahren haben!

Patrick: Haben sie nochmal angerufen? Ist sie’s? Ist sie noch am Leben?

Jérôme (verlegen): Ähm, nein… Die sind sich noch nicht sicher…

Christelle: Aber sie haben einen Koffer gesichtet, der so ähnlich aussieht wie ihrer. Ein Koffer Marke Vuitton. Er treibt auf dem Wasser…

Patrick: Und was ist daran erfreulich?

Christelle: Naja… (aufgeregt, fast hysterisch) Wir kriegen den Koffer wieder!

Jérôme macht eine Geste, um Christelle zu beruhigen.

Jérôme: Ihre Nerven gehen mit ihr durch.

Patrick: Ihr habt Recht. Diese Warterei ist unerträglich… Selbst wenn sie noch lebt… allein die Vorstellung: Nathalie ganz alleine, wie sie sich an ihren Koffer klammert, mitten im Ärmelkanal, und das auch noch im Winter… Und wir sitzen hier schön im Warmen… bei der Vorstellung gefriert mir das Blut in den Adern… (Pause) Bei euch ist es aber auch nicht besonders warm? Oder liegt das nur an mir?

Jérôme (in Anspielung): Jetzt können wir die Heizung ja wieder anmachen, oder, Christelle? Ich dreh sie gleich mal voll auf…

Er geht kurz raus, um die Heizung anzumachen.

Patrick: Was meinst du – wie lange hält man im Ärmelkanal durch, bei diesen eisigen Dezember-Temperaturen?

Christelle: Kommt drauf an… Sie war schon immer eher der kälteempfindliche Typ, oder?

Patrick: Ja… Furchtbar…

Jérôme kommt zurück.

Jérôme: Ich hab das Thermostat auf 25 gestellt. (Zwinkert Christelle zu) Damit wir nicht gleich einen Hitze-Schock kriegen, wenn wir unvorhergesehen in die Karibik verreisen sollten.

Patrick: Ihr fahrt in Urlaub?

Jérôme: Nee… naja… warum eigentlich nicht?

Patrick: Nehmt bloß kein Flugzeug…

Christelle: Ist vielleicht klüger. Das Gesetz der Serie… Und eine gute Meerwasserkur mit 5-Sterne-Hotel in der Bretagne ist auch nicht zu verachten… Wenn’s drum geht, in ein neues Leben zu starten…

Patrick: Ihr habt Recht, wenn ihr euer Leben genießen wollt … Ihr sehr ja, was für ein Spiel das Schicksal mit einem treibt! Gerade verbringt man noch einen ruhigen Freitagabend mit Freunden – und eh man sich’s versieht, ist man Witwer…

Christelle: Tja… (Es bricht aus ihr heraus) Oder Multimillionär!

Patrick: Ach… wir haben uns ja nicht mal eine Lebensversicherung leisten können… Es ist schon komisch: sie hat erst vor kurzem davon gesprochen… Damit wir wenigstens Geld für das Studium von den Kindern ansparen, wenn es mal ganz eng wird… Sie muss etwas gespürt haben… so was wie eine schlimme Vorahnung…

Jérôme: Tja… Na, wir haben nicht damit gerechnet, kann ich dir nur sagen. Ist einfach passiert…

Christelle (zu Patrick): Es muss ja nicht zum Schlimmsten kommen…

Jérôme: Da ist man baff… Das müssen wir auch erstmal verdauen.

Patrick: Habt ihr eine?

Christelle: Eine was?

Patrick: Eine Lebensversicherung! Oder eine Sterbeversicherung…

Jérôme: Wir haben was Besseres, kannst du mir glauben.

Patrick: Wenn sie da lebend herauskommt, werde ich mein Leben umkrempeln…

Christelle: Wir auch, da kannst du Gift drauf nehmen.

Patrick: Alle diese kleinen Opfer, die man jeden Tag bringt und sich dabei sagt, dass man alles später nachholt… Von wegen… Besser, man lebt in den Tag hinein … und denkt nicht an Morgen…

Jérôme: Genau. Ich, ich höre morgen auf zu arbeiten.

Patrick: Ich dachte, du bist arbeitslos?

Jérôme: Jaja, dann höre ich eben auf, mich nach Arbeit umzusehen.

Patrick: Aber irgendwie muss man ja die Kohle einfahren. Und ein bisschen was auf die Seite legen. Weil – bei unserer Rente… Aber für Nathalie wird die Rentenkasse nicht viel rausrücken müssen, so wie es aussieht…

Christelle: Sag doch so was nicht!

Patrick: Wie soll ich die beiden Kleinen allein durchbringen?

Christelle: Wir sind doch auch noch da… Nicht, Jérôme? Wir können dir ja einen abnehmen, um dich etwas zu entlasten!

Jérôme (wenig begeistert): Naja, wenn‘s sein muss…

Patrick: Ist lieb von euch… Aber wir schulden euch ja schon 1000 Euro…

Christelle: Ach, weißt du was? Die schenken wir euch, die 1000 Euro. Auf die kommt’s uns nicht mehr an, nicht, Jérôme?

Jérôme: Ja, ja, nee… Klar…

Patrick (gerührt): Das ist für mich wirklich eine große Unterstützung, dass ich auf Freunde wie euch zählen kann. … Ich weiß, was 1000 Euro für euch bedeuten… Gerade jetzt, wo Jérôme keine Arbeit hat. Wenn ich meine Bank bitten würde, mir die 1000 Euro zu leihen – ich weiß nicht, ob die das machen würden. Bei dem ganzen Geld, das sie verdienen, indem sie auf unsere Kosten spekulieren.… Und ihr habt nicht mal genug Geld, um mitten im Dezember die Heizung aufzudrehen… Außer wenn ihr jemanden eingeladen habt … Übrigens, ist jetzt ganz schön warm hier drin, findet ihr nicht? Ich will eure Heizkostenrechnung nicht in die Höhe treiben…

Jérôme: Ich dreh sie wieder ein wenig runter…

Jérôme geht wieder kurz raus.

Patrick: Wie soll ich das bloß den Kindern beibringen?

Christelle: Im Moment schlafen sie, oder?

Patrick: Aber die werden wohl eines Tages wieder aufwachen…

Christelle: Hör mal, auch wenn ich das vielleicht für mich behalten sollte: ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie tot ist. Nicht heute Abend…

Patrick: Wieso: nicht heute Abend?

Christelle: Ich weiß nicht, irgendwie… nach dem, was du vorhin über deinen Vater erzählt hast. Dass der ausgerechnet bei der Geburt von deinem Sohn gestorben ist. Als ob er dir eins auswischen wollte.

Patrick: Du meinst, dass Nathalie sich gerade heute entschlossen hat, mit dem Flieger abzustürzen, um uns den Abend zu verderben?

Jérôme kommt zurück.

Christelle (wechselt lieber das Thema): Wie wär’s, wenn wir den Fernseher wieder einschalten, um die Gewissheit zu haben… Jetzt kommen gleich die Lotto-Zahlen… ich meine, gleich danach kommen die Nachrichten…

Das Handy von Patrick klingelt, gerade als Christelle den Fernseher einschalten will. Patrick ist wie gelähmt und zögert abzunehmen, aber greift dann doch nach dem Handy.

Patrick: Ja…? Ja, das bin ich(Zu Christelle und Jérôme) Das sind sie! Das psychologische Beratungsteam… Ja…? Ja, ich bin noch dran…

Den beiden anderen ist das sehr peinlich.

Patrick: Aber sie hatten uns gesagt, dass… Ja, gut… Ok… Danke…

Er legt auf.

Patrick: Sie haben fünf Überlebende gesichtet, die sich an Trümmern des Flugzeugs festklammern… Eventuell auch sechs…

Jérôme: Die Zusatzzahl.

Patrick: Jetzt versuchen sie, die in einen Hubschrauber zu hieven, aber das Wetter über dem Ärmelkanal ist ganz übel… Die Identität ist noch ungeklärt.

Christelle: Sie werden dich sicher gleich benachrichtigen, wenn die Ziehung zu Ende ist… Äh, ich meine natürlich die Rettung.

Patrick: Nee, ihr habt ganz recht… Das ist wie beim Lotto. Schrecklich, diese Warterei… Als ob ich Lotto gespielt hätte und darauf warten müsste, dass die Gewinnzahlen bekannt gegeben werden.

Christelle: Genau… Als ich Jérôme geheiratet habe, war’s dasselbe… Wie viele Passagiere waren eigentlich in der Maschine?

Patrick: Keine Ahnung… Bei so einem Kurzstreckenflug…

Jérôme: Na, nehmen wir mal an: 100 Passagiere. Bei 5 Überlebenden macht das eine Chance von 1 zu 20. Eindeutig besser als beim Lotto.

Patrick: Ich hab noch nie Glück im Spiel gehabt.

Christelle: Ach, weißt du: „Das Glück ist ein Rindvieh – und sucht seinesgleichen.“

Patrick: Ein Glück, dass ihr da seid, sonst…

Christelle: Willst du dich nicht ein bisschen hinlegen, im Schlafzimmer?

Patrick: Und wenn sie wieder anrufen…?

Jérôme: Das kann doch noch Stunden dauern… Bei dem Sturm… So eine Bergung auf hoher See, bei diesen Bedingungen, das ist Feinarbeit… Ist nicht ausgemacht, dass sie die lebend herausfischen… Bei einer Wassertemperatur von zwei, drei Grad, überleg mal…

Patrick: Ich werd sowieso nicht schlafen können.

Christelle: Ich kann dir ein Schlafmittel geben, wenn du willst.

Patrick: Das bringt nichts, in meinem Zustand..

Christelle: Du kannst auch zwei oder drei davon nehmen. Die sind nicht so stark…

Patrick: Das ist echt lieb, aber ich werde jetzt nicht auch noch euer Schlafzimmer belegen…

Christelle: Ach, weißt du, wir werden auch nicht schlafen können, also…

Patrick: Danke… Ehrlich, ich hab nicht geglaubt, dass euch das alles genauso mitnimmt wie mich… (Schaut auf sein Handy) Scheiße, ich hab auf Anrufbeantworter gestellt, im Reflex… Ich schau noch mal nach, ob Nachrichten reingekommen sind…

Er geht ein paar Schritte zur Seite, um seine Sprachbox abzuhören.

Jérôme (zu Christelle): Wir werden ihn nicht mehr los… (Patrick kommt zurück)

Patrick: Nein, noch immer nichts…

Christelle: Naja, es ist ja auch erst fünf Minuten her, dass sie angerufen haben…

Jérôme: Und dann, weißt du, unter uns gesagt… Bei einer Chance von 1 zu 20… Da machst du dich besser auf das Schlimmste gefasst.

Patrick: Aber vorhin hast du doch noch gesagt..

Christelle: Wir wollen nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst… Oder, Jérôme?

Jérôme: Ehrlich gesagt: gut sieht’s nicht aus…

Christelle: Jérôme will damit sagen, mit seinen Worten, dass du es noch früh genug erfährst, wenn Nathalie umgekommen ist… Aber jetzt brauchst du vor allem etwas Schlaf… Soll ich dir ein Taxi rufen…?

Patrick: Nicht nötig, ich bin mit dem SUV gekommen.

Christelle: Ach, stimmt ja.

Patrick: Dabei… ich weiß nicht, ob ich in meinem Zustand fahren kann.

Jérôme und Christelle tauschen einen gereizten Blick aus.

Patrick: Aber du hast recht, ich werde mich ein bisschen in eurem Schlafzimmer ausruhen. Ich werde zwar nicht schlafen können, aber… ich glaub, es wird mir gut tun, ein bisschen für mich zu sein…

Jérôme: Ja, uns auch… Das verstehen wir sehr gut. Nicht, Christelle?

Patrick: Also, ich bin dann mal nebenan…

Christelle: Mach mal…

Patrick geht aus dem Wohnzimmer, unter den erleichterten Blicken von Jérôme und Christelle, die ihrer Freude freien Lauf lassen, als er verschwunden ist.

Jérôme: Der Wahnsinn! 60 Millionen!

Patrick kommt zurück. Jérôme und Christelle halten den Atem an.

Patrick: Ich hab nur mein Handy vergessen… (Patrick nimmt es und geht wieder raus.)

Christelle: Solange ich deinen Lottoschein nicht gesehen habe, glaub ich nicht daran. Zeig ihn mal her…

Jérôme: Wart mal, ich hol ihn… (Steht auf und macht einen Schritt) Scheiße, der ist im Schlafzimmer… Na, wenn wir Glück haben, schläft er ein und geht uns nicht die ganze Zeit auf den Keks. Also, besser, wir wecken ihn nicht auf… Wir können uns ja in der Zwischenzeit den Schampus einflößen? Zur Feier des Tages…

Christelle: Im Schlafzimmer? Da hab ich aber nichts rumliegen sehen… Du hast ihn doch hoffentlich nicht verloren, den Lottoschein? Wenn er vom Nachttisch runtergefallen ist… dann hat ihn der Staubsauger geschluckt. Und da hab ich gestern einen neuen Staubbeutel reingemacht. Und den Mülleiner mit dem alten habe ich heute früh geleert…

Jérôme: Keine Sorge… Der ist gut aufgeräumt. (Macht sich daran, die Flasche Champagner aufzumachen) Ich versuch, den Korken nicht zu sehr knallen zu lassen… damit er nicht gleich wieder aufwacht.

Christelle: Gut aufgeräumt…? Wo denn…?

Jérôme: In meinem Vuitton-Koffer. Oben auf dem Schrank… In der Innentasche… Ich hab ihn nicht einmal rausgenommen, als ich aus der Normandie zurückgekommen bin… Ich hatte ja sogar vergessen, dass ich Lotto gespielt habe, echt unglaublich…

Christelle (bestürzt): Meinst du wirklich deinen Koffer von Vuitton?

Jérôme: Ja doch … Meinen Koffer halt.. Sag bloß nicht, dass du auch den Inhalt aufgesaugt hast… (Jérôme merkt, wie verlegen Christelle ist) Was ist?

Christelle: Nathalie hatte keinen Koffer für den Flug nach Straßburg… Und hat mich gefragt, ob ich ihr einen leihen kann.

Jérôme lässt den Korken los, der mit einem kräftigen Knall durch den Raum fliegt.

Jérôme: Du hast ihr meinen Koffer geliehen? Du hast sie mit meinem Vuitton-Koffer in diesen verrotteten Billigflieger einsteigen lassen?

Christelle: Also, nur zur Erinnerung, der Vuitton-Koffer war kein echter… Nur ein nachgemachter, den wir in Triest gekauft haben, auf dem Rückweg aus dem FUI-Club in Korsika.

Jérôme: Mit unserem 60-Millionen-Gutschein drin! Damit hätten wir die Fabrik aufkaufen können, in der sie die echten Koffer herstellen…

Patrick erscheint wieder.

Patrick: Ich hab was knallen hören und bin aufgewacht… (sieht die mitgenommenen Gesichter der beiden) Ihr seht elend aus… Habt ihr Neuigkeiten?… Schlechte Nachrichten, ist es das? Und ihr traut euch nicht, damit rauszurücken?

Jérôme (zerknittert): Kann man so sagen…

Patrick: Herrgott nochmal…!

Christelle: Nee, du… Es geht gar nicht um Nathalie…

Jérôme: Ein bisschen schon…

Christelle: Jérôme hat nicht gewusst, dass ich Nathalie seinen Koffer geliehen habe… Das hat ihn natürlich getroffen… Also… emotional getroffen, meine ich… Dass seine beste Freundin sich an seinen Koffer klammert, mitten im Ärmelkanal… Völlig den Haien ausgeliefert…

Patrick: Was, da gibt’s Haie, im Ärmelkanal?

Christelle: Keine Ahnung, hab ich mir nur so vorgestellt…

Patrick: Auch das noch, der Koffer… Wir schulden euch schon 1000 Euro, die wir euch nicht so bald zurückzahlen können. Und jetzt kommt auch noch euer Vuitton-Koffer dazu – den werdet ihr auch nicht wiedersehen. Gut, dass es kein echter war…

Christelle: Noch ist nicht alles verloren. (Sie sieht zu Jérôme) Ich meine, wir können noch hoffen, dass sie Nathalie finden… und den Koffer.

Jérôme: Meinst du das wirklich?

Christelle: Ein Koffer schwimmt besser als eine Leiche! Wenn du an die Bilder denkst, die man nach einem Flugzeugabsturz im Fernsehen sieht. Was treibt auf dem Wasser? Die Koffer!

Jérôme: Tja… Vorausgesetzt, sie sind nicht zu schwer…

Christelle (zu Patrick): Hat sie viel Zeug dabei gehabt, in ihrem Koffer?

Patrick: Sie war nur eine Nacht im Hotel Ibis, in Straßburg, viel hat sie nicht mitgenommen.

Jérôme und Christelle schöpfen Hoffnung.

Patrick: Außer natürlich ihre Ansichtskataloge. Papier wiegt ja gleich eine Tonne. Ich hab den Koffer kaum in den Wagen heben können, als sie losgefahren ist. Aber wenigstens hatte er Rollen. Sind gar nicht so schlecht gemacht, diese nachgemachten Koffer. Ist nur vernünftig, sich keinen echten für teures Geld zuzulegen… Aber wieso wollt ihr wissen, was in dem Koffer drin war?

Christelle: Naja, wenn er schwimmt, kann sich Nathalie dran festklammern. Wie an einer Boje…

Patrick: Hmm. Aber bei dem Koffer nicht… Da hätte sie sich gleich an einen Amboss klammern können. Und außerdem sind die Koffer eh im Frachtraum, oder? Säuft alles mit der Maschine ab, Richtung Meeresboden…

Christelle ist untröstlich. Jérôme wirft ihr einen finsteren Blick zu.

Christelle: Manchmal orten sie doch so ein Flugzeugwrack und bergen es. Dann haben sie die Black Box und können die Absturzursache klären. Und vor allem alles rausholen, was drin ist, die Koffer – ähm, ich meine: die Körper… damit die Familien ihre Trauerarbeit aufnehmen können…

Jérôme: Glaubst du?

Christelle: Ach, bestimmt! Ich weiß nicht warum, aber ich bin guter Hoffnung. Oder, Patrick?

Patrick: Hmm. Ja, wenn du das sagst…

Christelle: Wir haben doch Freitag, den 13.?

Patrick: Ich hab nie durchschaut, ob das Glück oder Unglück bringt…

Christelle: Na… ein bisschen von beidem!

Jérôme: Bist du Hundert Prozent sicher, dass sie mit dem Koffer gereist ist?

Patrick: Ja, leider! Und mit der Discount Airways! … Ich hab ihr ja noch selber den Flug im Internet gebucht…

Jérôme (hysterisch): Mit meinem Koffer, verdammt noch mal! Mit meinem Scheißkoffer!

Patrick ist einigermaßen verwirrt.. Christelle gibt Jérôme zu verstehen, dass er sich beruhigen soll.

Patrick: Gut, ich glaub, ich verzieh mich jetzt wirklich… Ich werde bei meiner Mutter übernachten. Dann bin ich wenigstens bei den Kindern, wenn sie aufwachen. Und wenn ich Neuigkeiten habe, egal ob gute oder schlechte, gebe ich euch Bescheid. Versprochen.

Jérôme: 60 Millionen… 60 Millionen, fuck, fuck! Sagt mir, dass das ein Albtraum ist…

Christelle (zu Patrick): Ja, ist vielleicht vernünftiger…

Patrick: Mhm. Und ihr könnt schlafen.

Jérôme: Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir jetzt schlafen können?

Patrick: Ich ruf euch morgen früh an… Ihr werdet es sowieso früh genug erfahren… Ich natürlich auch. Du hast recht, Christelle. Es kann noch Stunden dauern. Ich nehm gleich ein Schlafmittel, wenn ich bei Mama bin…

Jérôme: Nee… wir wollen’s sofort wissen, wenn was rauskommt, oder, Christelle? Wir werden doch nicht rumsitzen wie auf glühenden Kohlen!

Patrick: Ich bin ehrlich gerührt, wie sehr dich das mitnimmt… Ich weiß, dass Nathalie für dich wie eine Freundin war… aber ich hätte nicht gedacht, dass dir ihr Tod so nahegeht.

Jérôme: Ich schalte noch mal den Fernseher an.

Stimme (aus dem Off): Die Gewinnzahl des Lotto ist, wie schon bekanntgegeben, die…

Jérôme: Wissen wir schon, es langt…

Patrick (beunruhigt, zu Christelle): Gib ihm besser auch ein Beruhigungsmittel, oder?

Jérôme zappt zu einem anderen Sender.

Stimme (aus dem Off): Es ist zur Gewissheit geworden: Beim Absturz einer Maschine der Discount Airways über dem Ärmelkanal hat es keine Überlebenden gegeben. Was man bisher für Überlebende hielt, hat sich als eine Gruppe von Flüchtlingen herausgestellt, die versuchten, auf einem Floß zur englischen Küste zu gelangen. Sie wurden geborgen und werden derzeit in einer Charter-Maschine der selben Fluggesellschaft zurück in ihre Heimatländer geflogen. Ihnen sei an dieser Stelle eine gute Reise gewünscht… Wir schalten zurück in die Lotto-Zentrale, wo man noch immer nicht den oder die glückliche Gewinnerin der heutigen Ziehung ermitteln konnte…

Jérôme schaltet aus, dem Zusammenbruch nahe.

Jérôme: Mist nochmal… Keine Überlebenden..

Das Handy von Patrick klingelt. Er sieht nach, welche Nummer angezeigt wird.

Patrick: Wenn es meine Mutter ist, geh ich nicht ran…

Jérôme: Mein Vuitton-Koffer…

Patrick: Das ist sie

Christelle: Wer – sie?

Patrick: Nathalie… Das ist ihre Nummer, auf dem Display.

Christelle: Nein…

Jérôme (beeindruckt): Du musst mir mal die Nummer von deiner Telefongesellschaft geben. Die sind echt gut drauf, was die Reichweite angeht…

Christelle: Los, geh schon ran!

Patrick (bleich, nimmt ab): Hallo?

Jérôme und Christelle hängen an seinen Lippen.

Patrick: Nathalie? Von wo rufst du n an? Du, ich kann dich kaum verstehen… Es ist, als ob du von ganz, ganz weit weg anrufst…

Jérôme: Na, das ist ja erstaunlich… Wo es keine Überlebenden gegeben hat…

Patrick: Und du, kannst du mich hören…? Nathalie…? Hallo…? Hallo…? (Er dreht sich zu den beiden anderen um, mit dramatischer Miene) Die Verbindung ist unterbrochen…

Totenstille.

Christelle: Bist du dir wirklich sicher, dass sie‘s war?

Patrick: Ich weiß nicht… Die Verbindung war sehr schlecht,,,

Jérôme: Isss nich wahr…!

Patrick: Auf jeden Fall kam der Anruf eindeutig von ihrem Handy. Es war ihre Nummer…

Jérôme: Die Gewinnzahl…

Christelle: Vielleicht ist sie aus der Maschine geschleudert worden… Und hat es geschafft, sich an etwas festzuklammern…

Jérôme: An ihrem Koffer…

Christelle: Und hat dich gerade noch mit dem letzten bisschen aus ihrem Akku angerufen.

Patrick: Puh… Die haben doch gesagt, dass es keine Überlebenden gibt… Ich hab gerade erst angefangen, mich damit abzufinden…

Christelle: Wunder werden wahr.

Jérôme: Ein Wunder… Jetzt müssen sie sie erst noch rechtzeitig orten, bevor die Haie sich über sie hermachen…

Patrick: Könnt ihr euch Nathalie vorstellen, allein, bei diesem Sturm, mitten im Atlantik…

Jérôme: Du meinst: im Ärmelkanal…

Christelle: So groß ist der nicht, der Ärmelkanal…

Patrick: Mitten in der Nacht, festgeklammert an deinen Koffer, mutterseelenallein im Ozean…

Jérôme: Im Ärmelkanal, hab ich gesagt!

Patrick: Vielleicht ist sie abgetrieben… Wie sollen sie sie da finden…?

Jérôme: Das ist wie ein Koffer in einem Heuhaufen…

Patrick: Ich versuch sie zurückzurufen… Auch wenn ihr Akku fast leer ist, kann sie uns vielleicht noch die Stelle beschreiben, wo sie ist. Das würde die Suche nach ihr erleichtern…

Christelle: Ja, aber wenn sie irgendwo mitten im Pazifik treibt…

Jérôme: Hey! Im Ärmelkanal!

Patrick wählt ihre Nummer und wartet angstvoll.

Patrick: Es klingelt… Oh, Gott, ihre Sprachbox. Es ist gerade so, als ob ich eine Stimme aus dem Jenseits höre… Hallo, Nathalie? Wenn du diese Nachricht abhörst, dann sollst du wissen, wie sehr ich dich liebe. Und die Kinder auch. Ich bitte dich, Nathalie, versuche durchzuhalten. Für mich. Für die Kinder. Und für dich selbst natürlich. Bis die Einsatzkräfte dich gefunden haben. Ich umarme dich ganz fest, Liebling… Ach, und bevor ich’s vergesse: dein Frauenarzt hat angerufen! Du bist schwanger, mein Schatz! Siehst du, du musst durchhalten!

Jérôme und Christelle sehen sich an, gerührt. Aber Patrick hat noch nicht aufgelegt.

Patrick: Noch eines wollte ich dir sagen, Nathalie, um mein Gewissen zu erleichtern… falls ich nicht mehr die Gelegenheit dazu habe. Ich hab dich mal betrogen. Nur ein einziges Mal. Aber es war ohne Bedeutung, ehrlich… Es war mit unserer Putzhilfe. Aber jetzt, wo ich weiß, dass ich Vater werde … Ich umarme dich ganz fest, Liebling…

Patrick legt auf, völlig durcheinander. Die anderen sehen sich betroffen an.

Christelle: Also, wenn sie jetzt nicht durchhält..

Beklommenes Schweigen.

Jérôme: Du heiliger Strohsack, das Handy!

Christelle: Ich höre nichts…

Jérôme: Nee, ich meine das Handy von Nathalie – das können sie doch orten! Das müssen wir den Rettungskräften gleich sagen. Vielleicht gibt’s ja noch Hoffnung, den Koffer wiederzufinden… Ich meine, Nathalie wiederzufinden… Was war denen ihre Nummer?

Patrick hält ihm sein Handy hin.

Patrick: Da, die Nummer ist drauf gespeichert.

Jérôme nimmt das Handy von Patrick und klickt auf Wahlwiederholung.

Jérôme: Mist, kein Netz. Ich versuch’s nochmal, auf dem Balkon.

Jérôme geht raus.

Patrick: Ich weiß nicht, ob’s richtig war, ihr das gerade jetzt zu gestehen.

Christelle: Wieso denn…?

Patrick: Das war so vor drei Monaten. Mit Maria, unserer Putzfrau. Wir waren allein zu Hause. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es war, als sie auf den Knien die Kloschüssel gescheuert hat, in ihrer kleinen weißen Schürze…

Christelle: Erzähl’s Nathalie genau so… Dass diese Schlampe dich unverschämt scharf gemacht hat…

Patrick: Und du, hast du Jérôme nie betrogen?

Christelle: Nach der Hochzeit nicht mehr…

Patrick: Naja… Ihr seid ja erst ein halbes Jahr verheiratet. Aber vorher wart ihr immerhin schon 15 Jahre zusammen…

Christelle: Naja, also nein…

Jérôme kommt zurück, was Christelle sehr gelegen kommt, weil es ihr ausführliche Erklärungen erspart.

Jérôme: Alles ok, sie leiten sofort die notwendigen Schritte ein. Und rufen uns an, sobald es was Neues gibt.

Christelle: Ich hab schon mal in einem Krimi im Fernsehen gesehen, wie sie das machen. Ist ganz leicht, jemanden über sein Handy zu orten. Und geht im Prinzip auch ganz schnell. Obwohl… mitten im Atlantik… muss man sehen!

Jérôme: Im Ärmelkanal.

Patrick: Leute, ich glaube, mir bleibt gleich das Herz stehen, bei diesem Hin und Her…

Das Handy klingelt.

Patrick: So schnell?

Christelle: Na, siehst du…

Jérôme: Jetzt geh schon ran!

Patrick: Hallo? Nein, Mama, sie haben ihren Tod noch nicht bestätigt. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen… Nein, die neue Adresse von Tante Adele hab ich auch nicht. Aber es ist doch wohl ein bisschen früh, die Todesanzeige zu verschicken…? Es reicht, ich kann jetzt nicht weiterreden, ich muss die Leitung freimachen. Ich erwarte einen dringenden Anruf… Ja, genau… Die Kränze? Hör mal, mach was du willst, das ist mir jetzt egal, kapiert? (Er legt auf, fuchsteufelswild) Manchmal geht es schon ungerecht zu… Wenn wenigstens meine Mutter in dem Flieger gesessen hätte…!

Das Telefon klingelt wieder. Patrick nimmt ab, noch immer außer sich vor Wut.

Patrick: Kannst du uns nicht endlich in Ruhe lassen, verdammt nochmal…? Oh, tut mir leid, ich hab geglaubt, dass es jemand anderes ist… Ja, klar, reden Sie nur weiter… Nein, nein, ich mach keine Witze, kann ich Ihnen versichern… Meine Frau war wirklich an Bord dieser Maschine und… Gut, in Ordnung, vielen Dank… Und rufen Sie bitte zurück, wenn Sie Neuigkeiten haben…?

Er legt auf, verunsichert.

Patrick: Das waren sie nochmal… Sie haben Nathalies Handy orten können…

Christelle: Und?

Patrick: Sie hat vom Bahnhof in Straßburg angerufen…

Das Festnetz-Telefon von Jérôme und Christelle klingelt. Christelle hebt mechanisch ab.

Christelle: Ja? (fassungslos, übergibt Patrick den Hörer) Nathalie

Patrick nimmt den Hörer.

Patrick: Nathalie? Wo bist du? Der ganze Atlantik wird nach dir abgesucht…! Das kann nicht wahr sein…! (zu den beiden anderen) Sie hat den Flug verpasst! Sie sitzt im Zug von Straßburg nach Paris!

Jérôme: Gott ist nicht tot…

Patrick: Weißt du’s noch gar nicht? (zu den beiden anderen) Sie weiß es nicht… Die Maschine von Discount Airways, mit der du fliegen solltest, ist über dem Mittelmeer abgestürzt… Alle Passagiere sind umgekommen … Boh, das ist echt ein Wunder…! (zu den beiden anderen) Sie ist zwei Stunden im Terminal am Flughafen festgesessen. In den Waschräumen. Sie hat die Tür nicht aufgekriegt… War vom Terminal dieser Flohmarkt-Fluggesellschaft auch nicht anders zu erwarten. Ok… Ruf mich an, wenn du kurz vor Paris bist, ja? Kuss, Kuss, Liebling… (er will schon auflegen, aber redet dann doch weiter) Ähm, Nathalie…? Hast du meine Nachricht bekommen?… Nein, es war nichts Wichtiges… Du kannst sie löschen, am besten sofort… Jetzt, wo ich weiß, dass du nicht tot bist…

Patrick legt auf.

Patrick (strahlend): Also jetzt können wir glaub ich den Champagner aufmachen!

Jérôme und Christelle sind leicht verlegen, weil sie die Flasche ja schon ohne ihn aufgemacht haben. Aber gleichzeitig sind sie auch furchtbar erleichtert.

Christelle: Das ist ja so was von unglaublich! Findest du nicht auch, Jérôme?

Jérôme: Du bekommst deine Frau wieder und wir…

Christelle: … einen Freund!

Jérôme: Um wieviel Uhr kommt sie an der Gare de l’Est an?

Patrick: In knapp einer Stunde… Dann ist dieser Albtraum endlich zu Ende… Ich bin euch so dankbar… Ich weiß nicht, ob ich das ohne euch durchgestanden hätte… (Er macht Anstalten aufzubrechen) Ich glaube, den Champagner trinken wir ein anderes Mal… Ich hole sie jetzt vom Bahnhof ab und dann fahren wir gleich nach Hause… nach dieser Bewährungsprobe haben wir uns eine Menge zu erzählen, das versteht ihr sicher…

Christelle: Klar… Vor allem, wenn sie doch noch deine Nachricht abhört…

Jérôme: Kommt nicht in Frage! Wir feiern das alle zusammen. Oder, Christelle?

Patrick: Wenn ich nur daran denke, dass sie die einzige Überlebende ist… Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sich die anderen Familien fühlen, die weniger Glück als ich gehabt haben…

Jérôme : Das Leben ist eine Lotterie! Hauptsache die richtigen Zahlen werden gezogen! Schlimm für die anderen, aber so ist es nun mal. The show must go on! Jetzt im Ernst, in deinem Zustand kannst du nicht Auto fahren. So mit den Nerven fertig, wie du bist, kriegst du deine Edelkutsche an einem Freitagabend am Bahnhof nicht geparkt. Ich rufe sie nochmal an und sag ihr, sie soll sich ein Taxi nehmen und direkt zu uns kommen. Mit ihrem Koffer.

Patrick: Ein Taxi…? Das wird aber ziemlich teuer und wir haben es doch gerade nicht so dicke…

Jérôme : Aber wir schon, nicht wahr, Christelle?

Christelle: Wir haben auch gute Neuigkeiten… Jetzt können wir’s euch ja verraten… Sag du’s ihm!

Jérôme will gerade loslegen, da klingelt das Festnetz-Telefon. Christelle nimmt ab.

Christelle: Hallo… Ach, Nathalie… Wir wollten dich gerade nochmal anrufen, um… (Ihr Lächeln erstarrt) Ok, ich geb ihn dir… (Zu Patrick) Nathalie… Sie hat deine Nachricht bekommen…

Patrick ist entsetzt, nimmt den Hörer und geht langsam Richtung Balkon.

Patrick: Hör mal, Nathalie, ich werde dir alles erklären, ok? Mach’s nicht gleich zur Staatsaffäre! Nach allem, was wir in den letzten Stunden durchgemacht haben, solltest du das vielleicht relativieren. Ich erinnere dich daran, dass du dem Tod ins Auge gesehen hast! Wichtig ist jetzt, dass wir beide am Leben sind! Du bist eine Überlebende, Nathalie!

Er geht auf den Balkon, um das Telefongespräch weiterzuführen.

Jérôme: Scheiße, das hat uns gerade noch gefehlt…

Christelle: Das wird jetzt überhaupt nicht einfach, sie dazu zu bringen, dass sie herkommt und mit uns eine Flasche Champagner köpft.

Jérôme: Stell dir vor, sie beschließt, jetzt, wo sie erfährt, dass Patrick ihr Hörner aufgesetzt hat, ihrem Leben ein Ende zu setzen und sich in die Seine zu stürzen. Samt Koffer…

Patrick kommt zurück, mit versteinerter Miene.

Christelle: Und…?

Patrick: Sie will nicht mehr mit mir unter einem Dach schlafen … Und spricht von Scheidung…

Jérôme: Solange kann sie ja hier übernachten, nicht, Christelle? Den Koffer hat sie ja schon gepackt…

Patrick: Ach, der Koffer, genau… Aber wenn’s nur das wäre…

Verständnislosigkeit bei den beiden.

Jérôme: Was denn?

Patrick: Also: Nathalie hat ihren Flug verpasst, aber den Koffer, den hatte sie schon aufgegeben… Den müsst ihr jetzt leider abschreiben… Der war im Laderaum…

Jérôme: So was Bescheuertes! (Zu Christelle) Sag mir, dass er fantasiert!

Patrick: Glücklicherweise – wenn man so will – war es ja kein echter, … Eigentlich ist es ja nicht ganz legal, die nachzumachen… Ich hab da mal eine Doku drüber gesehen… Nathalie hätte Schwierigkeiten bekommen können, an der Grenze…

Christelle: Auf dem Weg nach Straßburg?

Patrick: Wenn man über London fliegt…

Jérôme: Wenn er nicht gleich abhaut, prügle ich ihm das Hirn aus der Birne…

Patrick ist etwas überrascht von Jérômes Reaktion.

Patrick: Keine Panik, ich kauf euch einen echten nach, wie versprochen… Das bin ich euch schon schuldig…

Jérôme: Gute Idee! Von den 1000 Euro, die du uns schuldest…

Patrick: Also, jetzt mache ich mich wirklich auf den Weg, nicht, Christelle? Genug Emotionen für einen Tag…

Christelle schiebt Patrick sanft zur Türe, um ihn vor dem anstehenden Wutausbruch von Jérôme zu schützen.

Christelle: Mach dir keine Sorgen, der beruhigt sich wieder… Ruf mich morgen an, ok?

Patrick: Mach ich, ich halte dich auf dem Laufenden…

Patrick ist gerade dabei, raus zu gehen, dreht sich aber noch ein letztes Mal um.

Patrick: Ach übrigens, was war denn das für eine gute Nachricht, von der ihr mir erzählen wolltet…?

Christelle drängt ihn nach draußen.

Christelle: Ich ruf dich morgen an.

Patrick geht ab. Jérôme und Christelle bleiben allein zurück. Sie sinken auf die Couch. Bleierne Stille macht sich breit.

Jérôme: 60 Millionen Euro…

Christelle nähert sich Patrick zärtlich an.

Christelle: Komm schon, ist doch alles nicht so schlimm… Hauptsache, wir sind noch am Leben, oder? Und noch immer zusammen …

Jérôme entspannt sich ein wenig.

Jérôme: Stimmt auch irgendwie…

Christelle: Und überhaupt, was hätten wir mit 60 Millionen angestellt?

Jérôme: Das frag ich mich auch…

Christelle: Hätte unsere Beziehung dieser Belastung überhaupt standgehalten?

Jérôme: Gute Frage. Ganz zu schweigen: unsere Freunde… Schau mal, wir hätten uns fast mit Patrick und Nathalie zerstritten…

Schweigen.

Jérôme: Meinst du, wir hätten uns scheiden lassen, wenn wir die 60 Millionen kassiert hätten?

Christelle: Das kann einem schon zu Kopf steigen… Wenn man auf einen Schlag erfährt, dass man sich alle unterdrückten Wünsche erfüllen kann…

Jérôme: Du hast recht, der Dauerfrust ist Zement für eine Beziehung… Wenn ich daran denke, dass wir fast Multimillionäre geworden wären, läuft es mir kalt über den Rücken.

Christelle: Egal, für einen gemütlichen Abend vorm Fernseher, nur wir zwei, reicht es immer…

Jérôme: Weißt du, was mich wirklich entspannen würde…?

Christelle (erwartungsvoll): Lass es raus… Als kleine Entschädigung für dein verlorenes Vuitton-Imitat bin ich bereit, dir jeden Wunsch zu erfüllen.

Jérôme: Ein Tierfilm… Über das Liebesleben der Warane zum Beispiel…

Christelles Begeisterung ebbt etwas ab.

Jérôme: Hast du gewusst, dass die es mit jedem treiben, die Warane… Die weiblichen Warane lassen sich nacheinander von mehreren Männchen bespringen und die Eier, die sie später legen, enthalten dann das Erbgut von ihren sämtlichen Liebhabern.

Christelle (deprimiert): Da ist noch ein bisschen von dem Landwein… Zumindest das, was Patrick übrig gelassen hat… Willst du noch was davon? Besser, wir gewöhnen uns daran…

Sie schenkt zwei Gläser ein, während Jérôme den Fernseher wieder einschaltet.

Stimme (aus dem Off): Soeben erreicht uns die Nachricht, dass der Flug Nummer 32 a der Discount Airways nicht, wie bisher gemeldet, über dem Ärmelkanal abgestürzt ist. Nach neuesten Berichten hatte der Pilot auf Autopilot geschaltet und dann eine Ruhepause eingelegt. Statt der Zwischenlandung in London ist die Maschine bis Alaska weitergeflogen, wo sie an der Küste wegen Treibstoffmangel zu einer Notlandung gezwungen war.

Jérôme: Komisch, weißt du, ich hab das Gefühl, das ist ganz weit weg von mir.

Das Telefon klingelt. Christelle steht wie ein Zombie auf und hebt ab, während Jérôme gebannt in den Fernseher schaut.

Stimme (aus dem Off): Noch liegt uns keine Nachricht über das Schicksal der Passagiere im Flugzeugwrack vor. Auf diesen Bildern von einwandfreier Qualität sind jedoch zwei Pinguine zu erkennen, die mit einem Koffer spielen…

Christelle: Das ist jetzt nicht wahr…!

Christelle ist wie betäubt. Sie legt auf und kommt zu Jérôme zurück.

Jérôme: Wer war das?

Christelle: Nathalies Frauenarzt… Beziehungsweise meiner… Wir sind ja beim selben…

Jérôme: Und?

Christelle: Der hat unsere Krankenakten verwechselt…

Jérôme (verständnislos): Ja, und?

Christelle: Sie ist gar nicht schwanger. Ich bin’s, die schwanger ist!

Jérôme: Du, ich bin jetzt wirklich nicht zu schwachen Scherzen aufgelegt…

Christelle (frohlockend): Ich bin schwanger von dir, Jérôme! Wir kriegen ein Baby!

Jérôme (nicht wirklich begeistert): Aber… ich hab gedacht, wir können keines kriegen… Dein Frauenarzt hat doch gesagt, dass mein Sperma eine so schlechte Kondition hat, dass die Chancen bei eins zu einer Million liegen!

Christelle: Heute ist eben Freitag, der 13.!

Licht aus. Zu sehen ist nur noch die Lichterkette vom Weihnachtsbaum. Weihnachtslied, danach das Heulen von Flugzeugturbinen beim Absturz und eventuell eine Explosion.

Ende

Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales, EHESS; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.

Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französisch-sprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 70 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt.

Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. In Papierform können die Texte über die Webseite The Book Edition bestellt werden (zum Preis der entsprechenden Fotokopien).

Zum Übersetzer

Dr. phil. Hans-Joachim Bopst, Studium von Romanistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache; nach über 10 Jahren Lehre an französischen Universitäten seit 1992 in der Übersetzerausbildung an der Universität Mainz / Germersheim tätig; Lehre, Forschung, Veröffentlichungen und Übersetzungen zu Tourismus, Sprachwissenschaft, Didaktik; zahlreiche Gastdozenturen, Vorträge und Workshops an in- und ausländischen Universitäten; seit 2016 Übersetzung der Komödien von Jean-Pierre Martinez.

Was ist eigentlich gemeint, wenn man vom „übersetzten Text“ spricht ? – Beide Texte: der Original-Text und der Text, in dem er sich spiegelt…

Grundlage für die deutsche Übersetzung der Stücke von Jean Pierre Martinez waren Übersetzungsübungen, die unter meiner Leitung am Fachbereich Translations-, Sprach und Kulturwissenschaft (FTSK) der Universität Mainz / Germersheim zwischen 2018 und 2020 stattfanden.

Mein Dank für Kreativität, Korrekturen und Tipps an alle beitragenden Studierenden und Kolleg*innen !

Hans-Joachim Bopst

In deutscher Übersetzung liegen folgende Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez vor:

Die Touristen

Vier Sterne

Freitag, der 13

Strip Poker

Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez einschließlich der Übersetzungen können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden:
comediatheque.net

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist nach den Bestimmungen über geistiges Eigentum urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung des Werks – insbesondere die Bühnenaufführung – außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes und ohne Einwilligung von Autor und Übersetzer ist unzulässig und strafbar

und kann zu hohen Schadensersatzansprüchen führen.

Text-Download: kostenlos

Paris / Heidelberg / Germersheim – März 2020

© La Comédi@thèque – ISBN 978-2-37705-401-5

Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez einschließlich der Übersetzungen können als pdf-Datei gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden oder von ihm als Buch bezogen werden : LA COMÉDIATHÈQUE

Freitag, der 13. Lire la suite »

Vier Sterne

Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (EHESS, Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.

Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französisch-sprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 70 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt.

Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. In Papierform (zum Preis der entsprechenden Fotokopien) können die Texte über die Webseite The Book Edition bestellt werden. Die Rechte für die Bühnenaufführung können / müssen über die Verwertungsgesellschaft SACD erworben werden.


Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden.


In deutscher Übersetzung liegen folgende Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez vor:

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist nach den Bestimmungen über geistiges Eigentum urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung des Werks außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes und ohne Einwilligung von Autor und Übersetzer ist unzulässig und strafbar und kann zu hohen Schadensersatzansprüchen führen.

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Wenn Sie ihn öffentlich darbieten möchten – gleich ob auf einer etablierten Bühne oder in einem Laientheater – müssen Sie die Aufführungsrechte beim Autor einholen:

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Vier Sterne

Sie haben nichts gemeinsam – vier Reisende, die eine Reise ins All gebucht haben. Das Zusammenleben im Raumschiff verläuft mehr oder weniger gut – bis zu dem Moment, als der Kontrollturm ihnen eröffnet, dass sie wegen eines Lecks in der Sauerstoffversorgung zurückgeholt werden müssen. Das Problem: es ist nicht mehr genug Luft für alle da. Einer von ihnen muss sich opfern, sonst kommen sie alle um. Sie haben eine Stunde Zeit, um denjenigen zu finden, der das „Zeug zum Helden“ hat…

Personen : Edouard – Kimberley – Natacha – Igor

© La Comédi@thèque

ERSTER AKT

Leitzentrale eines Raumschiffs. Bei so einer Komödie sollte man auf einen kitschigen Futurismus Marke Science-Fiction-Filme nicht verzichten. Die Bühnenrückwand kann mit einer bemalten Leinwand abgehängt sein, sie zeigt den Sternenhimmel, wie er von der Aussichtsplattform zu sehen ist. An einer der Seitenwände hängt ein telefonförmiges Funkgerät mit rot blinkendem Lämpchen, an der anderen ein Glaskasten mit einer kleinen roten Feueraxt, wie in Zügen üblich (mit der Aufschrift „Nur im Notfall zu benutzen“). Nach vorne hat man sich eine weitere Glasfront vorzustellen, von der aus sich den Raumfahrern je nach Drehung des Raumschiffs eine unverstellte Sicht auf Erde, Mond und Sterne bietet. Rechts führt eine Tür zur Pilotenkanzel und zum Labor, links geht es zu den Unterkünften. Eduard steht den Zuschauern zugewandt und bestaunt die Szene.

Edouard: Einfach unglaublich, schauen Sie nur, Kimberley! Da unten ist Frankreich!

Kimberley scheint gerade nach etwas zu suchen und wirft nur einen zerstreuten Blick in seine Richtung.

Kimberley: Ja, ja, ganz klein…

Edouard: Von hier erkennt man gut die Küste der Bretagne, die Gironde-Mündung und das Bassin d’Arcachon… wo übrigens meine Jacht liegt, die müsste man eigentlich auch sehen…

Kimberley: Mit Google Earth sehen Sie sie bestimmt. Wenn ich mein Handy finde…

Edouard: Ist schon verrückt… Jeder weiß, dass die Weltkarten von heute absolut wirklichkeitsgetreu sind, anders als die mittelalterlichen Karten, auf denen Amerika noch gar nicht verzeichnet war… Und jetzt haben wir den sichtbaren Beweis!

Kimberley: Erzählen Sie mir bloß nicht, dass Sie ein Heidengeld für diesen Flug hingelegt haben, nur um nachzuprüfen, ob es Amerika wirklich gibt?

Edouard: Aber schauen Sie nur, man kann sogar Korsika sehen! (Er geht zur Aussichtsplattform) Ach, nee… Das ist nur Fliegendreck… (Er tritt zurück und nimmt seine Beobachtung wieder auf) Da, der Stiefel, das ist Italien…

Kimberley (wirft jetzt einen kurzen Blick in die Richtung) – Ist schon komisch, von hier sieht man keine einzige Grenze…

Edouard: Haben Sie etwa gedacht, dass man die Grenzen gestrichelt eingezeichnet sieht, wie auf einer Michelin-Karte? Aber stimmt schon, früher hat man ja sogar die Berliner Mauer aus dem All erkennen können.

Kimberley: Schon schade, dass die weg ist.

Edouard: Die Chinesische Mauer, die bleibt, die kann man ja auch nur schwer kaputt machen…

Kimberley: Mhm…

Edouard: Und Sie? Wie sind Sie zu dieser Reise gekommen?

Kimberley: Das war der erste Preis bei einem Ratespiel auf Kanal TF 1.

Edouard: Und den haben Sie gewonnen? Chapeau!

Kimberley: Man musste den Namen von der Kandidatin wissen, die am Abend zuvor bei einer Reality-Show rausgefallen war.

Edouard: Mich hat dieser nette Ausflug ins All die Kleinigkeit von einer Million Dollar gekostet…

Kimberley: Ja, aber dann gab’s noch einen Losentscheid…, weil über eine Million richtige Einsendungen eingegangen waren. Ehrlich gesagt wär mir ja der zweite Preis lieber gewesen.

Edouard: Nämlich?

Kimberley: Ein Twingo.

Edouard: Auch nicht schlecht.

Kimberley: Nigelnagelneu! Mit allem Drum und Dran: elektrische Fensterheber, Autoradio, Klimaanlage… Ist ganz schön warm hier drin, nicht?

Edouard wendet sich wieder der Aussicht durch die Panoramascheibe zu.

Edouard: Ist wirklich un-glaub-lich, hier braucht man keinen Wetterbericht mehr. Ich kann Ihnen auf einen Blick sagen, dass Nicaragua in der nächsten Stunde einen satten Wirbelsturm abbekommt, der alles zu Kleinholz macht. Das ist schon toll…

Kimberley sucht noch immer überall, außer am Panoramafenster.

Kimberley: Ich hab’s vorhin noch in der Hand gehabt, es kann doch nicht einfach weggeflogen sein…

Sie stößt mit Igor, dem Chefpiloten, zusammen, der in diesem Moment von der Pilotenkanzel hereinkommt.

Kimberley (kokett): Ah, Igor!

Igor: Haben Sie was verloren, Kimberley?

Kimberley: Ja, mein iPhone.

Igor (hält ihr ihr iPhone hin): Ich hab’s in der Toilette gefunden, hat an der Decke geschwebt. In dem Teil vom Raumschiff haben wir Probleme mit der künstlichen Schwerkraft. Ich werd versuchen, das in Ordnung zu bringen…

Kimberley: Danke, das ist nett von Ihnen, Herr Kommandant.

Igor: Leider schweben da noch ganz andere UFOs… Was wollen Sie denn mit dem Handy anfangen?

Kimberley: Naja, mal anrufen!

Igor: Hm… Ich glaub, das wird nicht gehen, Kimberley.

Kimberley: Im Flugzeug muss man sein Handy doch nur beim Start ausschalten, oder?

Igor: Ja, aber hier sind wir in einer Raumfähre. Sie können Ihr Handy anlassen. Aber es würde mich wundern, wenn Sie in 180 km Höhe ein Netz bekommen. Und wenn doch, dann geben Sie mir bitte gleich den Namen von Ihrem Anbieter.

Kimberley: Das kann doch nicht wahr sein, dass wir nicht telefonieren können, den ganzen… Das ist ja schlimmer als im Theater!

Igor: Ich bin untröstlich…

Kimberley: Sagen Sie mir jetzt bloß nicht, dass wir ganz abgeschnitten sind vom Rest der Welt!

Igor: Nicht unbedingt abgeschnitten… Sagen wir mal so: sollte Ihr iPhone im Weltraum tatsächlich klingeln, dann wär das am anderen Ende der Leitung kein Erdbewohner…

In diesem Augenblick klingelt das Handy von Kimberley. Sie nimmt ab, ungläubig.

Kimberley: Hallo? (Wieder gefasster) Das ist nur die Weckfunktion, ich hab vergessen, die Uhr umzustellen.

Igor: In der Umlaufbahn kommt man zugegebenermaßen mit den Tageszeiten ganz schön durcheinander.

Kimberley: Aber was, wenn wir zum Beispiel einen Notfall haben? Kann man dann nicht einmal mehr das Rote Kreuz anrufen?

Igor zeigt zum Sprechfunk an der Wand.

Igor: Im Notfall sind wir per Funk mit der Erde verbunden. Aber wenn Sie Ihren Friseurtermin verschieben wollen, werden Sie noch bis zu unserer Rückkehr warten müssen, fürchte ich…

Kimberley gibt einen Seufzer von sich.

Kimberley: Ich hab überhaupt nichts zum Anziehen heute Abend – was soll ich bloß machen?

Igor: Ich persönlich hab schon was zum Anziehen. Aber Sie können das natürlich ganz frei entscheiden…

Kimberley (schnurrt wieder): Aber, Herr Kommandant…

Natacha tritt auf und kreuzt gerade noch Kimberley beim Rausgehen.

Natacha (kühl-distanziert): Hallo, Kimberley. Alles nach Wunsch?

Kimberley (imitiert E.T.): E.T. nach Hause telefonieren…

Kimberley geht ab.

Edouard: Da, von hier kann man den Mond sehen!

Igor schaut Kimberley hinterher, vor allem auf ihren verlängerten Rücken, was Natacha genau mitbekommt.

Natacha: Von hier auch… (Zu Igor) Was wollte’n die Dauergewellte?

Igor: Die Adresse von Ihrem Friseur. Aber keine Sorge, von mir erfährt sie die nicht, nur über meine Leiche…

(Natacha kommt nicht mehr dazu zu antworten)

Edouard: Na, Igor, heute Kapitänsgala? Was steht denn so auf dem Speiseplan? Ist ja immerhin Silvester, kaum zu glauben! Sie werden uns doch nicht schon wieder Ihre dehydrierten Fertiggerichte in lauwarmer Tunke vorsetzen?

Igor: Keine Angst, Edouard, es ist alles für einen Jahreswechsel vorgesehen, der sich sehen lassen kann. Der Küchenchef schlägt Gänsebraten mit dehydrierten Maronen vor, dazu unseren besten russischen Champagner… lauwarm.

Edouard (seufzt): Wenn ich denke, was ich für meine 4-Sterne-Fahrkarte hingelegt habe – dafür hätten Sie schon französischen Kaviar auffahren können!

Igor: Warum haben Sie nicht ein paar von Ihren legendären Würsten mitgebracht, Edouard?

Edouard: Sie werden’s nicht glauben, ich hatte einen Wurst-Koffer dabei. Aber dann hieß es, ich hätte Übergepäck … und ich musste entweder die Würste oder meinen DVD-Player und die komplette Simpsons-Serie zurücklassen.

Natacha: Und als Mann von Welt…

Edouard: Schon gut. In der Zwischenzeit gehe ich mal wieder in die Schwerelosigkeitskammer, kann gar nicht genug davon kriegen, vielleicht bekomme ich da mehr Appetit.

Igor: Das leuchtet ein. (Zu Natascha gewandt) Ist auch der einzige Ort, an dem er nicht wie ein Trampel daherkommt…

Edouard (Edouard geht ab, trällert dabei die Erkennungsmelodie aus dem Film ‚Die Simpsons‘): « Spider-Schwein, Spider-Schwein », macht, was immer ein Spider-Schwein macht… ! Und, Natacha? Was macht die Forschung?

Natacha: Der liebe Gott hat die Erde nicht an einem Tag erschaffen… Geben Sie mir den Rest der Woche Zeit und ich finde raus, wie er’s angestellt hat.

Edouard: An was arbeiten Sie gleich nochmal?

Natacha: Am Urknall.

Edouard (skeptisch) Wenn es nobelpreisverdächtig wird – lassen Sie‘s mich auf jeden Fall wissen. (Trällert weiter) « Spider-Schwein, Spider-Schwein, macht, was immer ein Spider-Schwein macht… »

Igor: Er hat sich mit Wurstwaren eine goldene Nase verdient.

Natacha: Er ist aber gut drauf.

Igor: Vor allem auf der Waage.

Natacha: Er ist eine Milliarde Dollar schwer. Und ohne diese Neureichen, die astronomische Summen zahlen, um die Erde von oben zu sehen, könnte ich nicht mehr weiterforschen…

Igor: Schon komisch, dass das Geheimnis der Schöpfung vielleicht dank Sponsoring eines Wurstfabrikanten aufgeklärt wird…

Natacha: Und Sie? Ohne die Finanzierung durch das Fernsehen würden Sie doch keine Raumfähren fliegen, sondern nur Chartermaschinen auf die Balearen … Was soll denn diesmal draus werden?

Igor: Bei RTL denken sie über ein neues Format für eine Reality-Show nach. Eine Art Big Brother mit Schwerelosigkeit… Oder so etwas wie Dschungelcamp, aber auf dem Mond.

Natacha: Ach, deswegen haben wir Kimberley an Bord?

Igor: Sie wollen herausfinden, wie das menschliche Gehirn bei einem IQ unter 60 mit der Schwerelosigkeit zurechtkommt. Und das natürlich, bevor sie zukünftige Kandidaten ins Rennen schicken …

Natacha: Das hätten sie auch gleich an einer echten Gans ausprobieren können.

Igor: Und die hätten wir uns jetzt an Silvester einverleibt.

Natacha: Sie können das ja noch.

Igor: Sie ist nicht so ganz mein Typ…

Natacha: So wie Sie hinter ihr her gegafft haben, könnte man dran zweifeln…

Igor (ironisch): Eifersüchtig…?

Natacha: Sie glauben doch nicht etwa, dass Sie mein Typ sind?

Igor: Zumindest jetzt an Silvester hab ich keinen Konkurrenten. Außer wenn Herr Spiderschwein Ihr Typ ist…

Natacha (lächelt): Sind wir jetzt etwa schon in der ersten Folge vom Luna-Dschungelcamp?

Igor will gerade antworten, da fängt die rote Kontroll-Lampe der Bordsprechanlage an zu blinken.

Igor: ‚Tschuldigen Sie n Moment… (Er nimmt den Hörer ab) Kommandant Spock … (Natacha will gerade rausgehen, da bemerkt sie den besorgten Gesichtsausdruck von Igor und bleibt stehen) Ja… Ja… Ok. Nein, nein… Halten Sie mich auf dem Laufenden.

Igor hängt auf.

Natacha: Gibt’s ein Problem?

Igor: Das Kontrollzentrum hat gerade ein Leck in der Sauerstoffversorgung entdeckt…

Natacha: Schlimm?

Igor: Können die noch nicht sagen. Sie rufen durch, sobald sie mehr wissen… Bis dahin müssen wir das Notaggregat in Betrieb nehmen…

Kimberley kommt wieder. Sie trägt ein sehr durchscheinendes Abendkleid.

Kimberley: Meinen Sie, das wäre etwas für heute Abend?

Igor hat andere Sorgen und beachtet sie kaum.

Igor (zu Kimberley): Kleinen Moment, ich muss gerade was regeln… (Zu Natacha gewandt) Kein Grund, die beiden Touristen jetzt damit zu beunruhigen…

Igor geht ab. Kimberley ist offensichtlich enttäuscht.

Kimberley: Er hat mich nicht mal angeschaut… Gerade so, als wäre ich durchsichtig… Finden Sie mich durchsichtig?

Natacha: Ihr Kleid schon…

Kimberley: Vielleicht ein wenig…?

Natacha: Mehr als das, aber… Weihnachten und Silvester ist nur einmal im Jahr! Und es ist die einzige Woche im Jahr, wo eine Frau sich nacheinander als Tannenbaum und als Schlampe anziehen kann. Das muss sie doch ausnutzen.

Kimberley: Sie finden’s nicht so umwerfend…

Natacha: Das hab ich nicht gesagt.

Edouard kommt wieder, trällert.

Edouard: « Spider-Schwein, Spider-Schwein, macht, was immer ein Spider-Schwein macht… » Wow, das ist einfach der Wahnsinn! Aber lieber, bevor ich mir die Gans genehmige.

Kimberley wendet sich ihm zu.

Kimberley: Gefällt Ihnen das, was Sie sehen, Edouard?

Edouard: Ich hab nicht Sie gemeint. Das hätte ich mir nie erlaubt.

Kimberley: Mein Kleid!

Edouard: Ja, es ist… Wie wär’s, wenn Sie mal mit mir unter die Decke gehen? Zu zweit macht das bestimmt noch mehr Spaß…

Igor kommt wieder, was Kimberley eine Antwort erspart. Natacha merkt, dass er noch etwas besorgter aussieht.

Natacha: Alles Roger, Käptn Spock?

Kimberley (zu Edouard): Ich dachte, er ist Kommandant und heißt Igor…

Igor: Alles Roger. Ich habe das Notaggregat eingeschaltet…

Edouard: Das Notaggregat…?

Igor (beschwichtigt) Wir haben ein kleines technisches Problem, aber das bekommen wir gleich wieder hin … Keine Sorge, wir werden ein atemberaubendes Silvester feiern, wie vorgesehen.

Edouard: Dann ist ja alles gut… Ach übrigens, Kommandant, wo wir doch fast genauso schnell wie die Sonne um die Erde kreisen… ähm… Sie wissen schon, was ich meine… Wann genau können wir davon ausgehen, dass es Mitternacht ist?

Igor (zweideutig): Sie können mir glauben, Edouard, bis dahin wird es die längste Silvesternacht Ihres Lebens…

Edouard: Ist schon der Wahnsinn, diese Reise… So was macht man nur einmal in seinem Leben.

Natacha: Sie wissen gar nicht, wie richtig Sie da liegen.

Edouard: Stimmt, es ist ganz schön heiß hier, finden Sie nicht? (Zu Kimberley) Sie hatten recht, Sie hätten den Twingo nehmen sollen, der hat wenigstens eine Klimaanlage…

Es blinkt wieder an der Bordsprechanlage. Igor tauscht einen Blick mit Natacha und nimmt den Hörer ab, während sie versucht, die anderen abzulenken, indem sie in Richtung Glasfront / Zuschauerraum zeigt.

Natacha: Schauen Sie nur, wir fliegen gerade über China!

Igor (spricht in den Hörer) Ja…?

Natacha: Man kann sogar die Große Mauer sehen!

Edouard: Wo denn?

Kimberley: Ich sehe nichts…

Natacha: Doch, doch, da!

Edouard: Ah ja, das könnte sie sein…

Igor (spricht in den Hörer): Nicht…?

Edouard: Ah ja, da, ich kann sie sehen!

Kimberley: Ich kann noch immer nichts erkennen. Allmählich frage ich mich, wozu ich überhaupt hierher gekommen bin.

Igor (spricht in den Hörer): Verstanden…

Igor hängt auf und wechselt einen besorgten Blick mit Natacha.

Edouard: Das ist der schönste Tag in meinem Leben!

Natacha: Ja… Und vielleicht auch der letzte!

Igor (zu Kimberley): Na, Kimberley, ich möchte sie daran erinnern, dass Sie heute noch keine Gymnastik in der Schwerelosigkeitskammer gemacht haben. Sie wissen doch, das gehört zu unserem täglichen Programm

Kimberley (mit einem Seufzer): Mir wird immer ganz übel davon, wenn ich wie eine Fliege kopfüber an der Decke krabbeln soll! Wozu soll das gut sein?

Edouard: Ich komme mit. Sie werden sehen, das macht wirklich Spaß! (Er geht mit Kimberley ab und trällert wieder) « Spider-Schwein, Spider-Schwein, sie macht, was sie immer macht… »

Igor und Natacha bleiben allein zurück.

Natacha: Und?

Igor: Es ist etwas unerfreulicher als erwartet…

Natacha: Jetzt rücken Sie schon raus mit der Wahrheit, Kommandant. Ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, dass ich als Co-Pilotin in dieser Raumfähre eingesetzt bin.

Igor: Das Hauptbelüftungssystem ist definitiv ausgefallen. Wir müssen mit der Notversorgung auskommen.

Natacha: Wie viele Stunden Funktionsfähigkeit?

Igor: Vier Stunden.

Natacha: Genug für die Rückkehr zur Erde – wenn wir gleich starten. Aber nicht genug für die Silvester-Party. Die beiden Touristen werden enttäuscht sein, naja, aber das ist das Geringste. Edouard bekommt sein Geld zurück und Kimberley ihren Twingo.

Igor: Ganz so einfach ist es leider nicht…

Natacha: Das habe ich fast geahnt. Sonst würden Sie nicht diesen Cocker-Blick aufsetzen. Welche Mängel gibt’s noch in diesem Schrotthaufen? Und erzählen Sie mir bloß nichts von diesen UFOs, die in der Toilette schweben – ich bin schon auf dem Laufenden…

Igor: Die Notbelüftung ist nur für drei Personen vorgesehen…

Natacha (fassungslos): Soll das ein Witz sein?

Igor: Warum würde ich diesen Cocker-Blick aufsetzen, wenn’s einer wäre?

Natacha: Aber… wieso?

Igor: Sie haben’s ja selber gesagt, diese Raumfähre ist ein Schrotthaufen. Das Antriebssystem stammt von dem Shuttle, den die Amerikaner vor nicht langer Zeit ausgesondert haben, die Kommandokapsel von der Internationalen Raumstation, die die Europäer gerade aufgegeben haben… und das Notsystem, in dem wir hier stecken, haben sie aus einer alten russischen Sojus-Kapsel zusammengebastelt…

Natacha (fix und fertig): Für 3 Personen ausgelegt… Aber wie konnten sie uns dann zu viert starten lassen?

Igor: Spider Schwein hat eine Million Dollar für sein Ticket bezahlt. Und ohne ihn wäre der Start aus Geldmangel abgeblasen worden. Und Sie hätten Ihre Experimente nicht durchführen können.

Natacha: Und Sie haben das alles gewusst!

Igor: Wie gesagt: es war die einzige Chance zu diesem Start. Und hätten Sie auf diese einmalige Gelegenheit verzichtet, ihre Urknall-Theorien zu beweisen, wenn Sie es gewusst hätten?

Natacha: Nein.

Igor: Nein. Weil Ihnen das im günstigen Fall wahrscheinlich den Nobelpreis einbringt. Wozu wäre dann diese kleine Information gut gewesen?

Natacha: Ja, schon, aber unsere beiden Hochbegabten sind kaum nobelpreisverdächtig. Die hatten das Recht, es zu erfahren.

Igor: Die – die wären doch gar nicht mitgekommen, wenn sie’s gewusst hätten…

Natacha: Spider Schwein hätte stattdessen bestimmt den Club Med von Bora Bora gebucht…

Igor: Und die Lady hätte den Twingo mit Klimaanlage gewählt…

Natacha: Toll! Und was hat die werte Reiseleitung am Boden zu bieten?

Igor: Nichts… Wie es aussieht, sind wir für uns selbst verantwortlich. Aber die Rechnung ist einfach: wir haben für vier Stunden Sauerstoff, aber nur für drei Leute. Entweder sind wir bis zur Landung alle erstickt. Oder einer von uns muss eine Stunde lang die Luft anhalten…

Natacha: Und wie soll das gehen?

Igor: Zum Beispiel mit einer Kapsel Zyankali.

Natacha: Wie bitte??

Igor: Wir haben auch die Erste-Hilfe-Ausstattung der Sojus-Kapsel übernommen. Das war der Plan B für den Notfall.

Natacha: Na, super… Dann müssen wir nur noch den Freiwilligen finden, der Philosoph genug ist, den Schierlingsbecher zu leeren.

Igor: Ich hab da so eine Idee, aber die wird Ihnen nicht gefallen…

Natacha: Und die wäre?

Igor: Ein wenig Zyankali als Beilage zur gefriergetrockneten Gans, das wird sie nicht merken.

Natacha: Sie?

Igor: Die Gans.

Natacha: Das ist nicht Ihr Ernst, oder?

Igor: Oder lieber Spider Schwein?

Natacha: Das läuft auf Mord hinaus, Kommandant! Egal, wie wir unser Gewissen beruhigen, können Sie nicht abstreiten, dass es gesetzeswidrig ist.

Igor: Aber vier Leute in einen fliegenden Schrotthaufen mit nur drei Fallschirmen steigen zu lassen – das ist legal…

Natacha: Klar, wir wollen unsere Haut retten. Aber nicht, wenn wir dafür ins Gefängnis gehen… oder das bis an unser Lebensende auf dem Gewissen haben.

Igor: Na schön, was schlagen Sie vor?

Edouard und Kimberley kommen sichtlich gut gelaunt zurück. Sie trällern das Lied von Peter Schilling ‚Major Tom / Völlig losgelöst‘

Kimberley: „Die Erdanziehungskraft ist überwunden / Alles läuft perfekt, schon seit Stunden.“

Edouard: „Im Kontrollzentrum, da wird man panisch / Der Kurs der Kapsel, der stimmt ja gar nicht.“

Kimberley: „Völlig losgelöst / Von der Erde / Schwebt das Raumschiff / Völlig schwerelos.“

Edouard: Na, Kommandant? Zeit für einen Aperitif, nicht? Mir knurrt der Magen!

Kimberley: Ich hab auch schon einen Bärenhunger.

Natacha (zu Igor): Auf jeden Fall werden wir ihnen nicht länger die Wahrheit verschweigen können… ohne sie natürlich unnötig in Panik zu versetzen…

Igor: Diesen beiden schrägen Vögeln eröffnen, dass sie oder er ein Übergepäck ist, ohne sie unnötig in Panik zu versetzen, wie Sie so schön sagen – ich bin mal gespannt, wie Sie das anstellen…

Natacha (verlegen): Ich kann’s ja immerhin versuchen…

Igor: Wenn Sie das hinkriegen, haben Sie sich auch den Nobelpreis für Psychologie verdient…

Licht aus.

ZWEITER AKT

Von der noch dunklen Bühne ertönt ein schriller Schrei, ein Glas geht zu Bruch. Das Licht geht an. Natacha und Igor machen sich an der bewusstlosen jungen Frau zu schaffen, um sie wachzubekommen. Edouard steht daneben, die Augen weit geöffnet. Er umklammert die kleine Feueraxt aus dem Glaskasten, den er eben eingeschlagen hat.

Igor (zu Natacha): Ich glaube, Sie geben sich besser mit dem Physik-Nobelpreis zufrieden…

Edouard (schwingt die Feueraxt bedrohlich): Ich weiß nicht, was mich davon zurückhält, Ihnen beiden den Schädel zu spalten!

Igor: Vielleicht der Umstand, dass nur wir beide dieses Raumschiff zur Erde zurückbringen können…

Edouard: Ich könnte ja nur einen von Ihnen ausschalten… Sie zum Beispiel…

Igor: Wären Sie dazu überhaupt fähig?

Edouard: Ich hab’s als Chef in einem Schlachthof weit gebracht…

Igor: Ich bin kein Kalb. Aber versuchen Sie’s nur! Ich kann mich ja immer auf Notwehr berufen…

Natacha: Glauben Sie wirklich, dass das jetzt der richtige Moment ist?

Edouard: Wann soll denn der richtige Moment sein? Wenn wir alle am Ersticken sind?

Igor: Ihr Anfall verbraucht Luft. Ich schlage vor, Sie hören auf zu atmen. Das würde auch gleich unser Problem lösen.

Natacha: Ah, sie kommt wieder zu sich.

Igor: Schade. Das hätte unser Problem auch gelöst…

Kimberley: Sagen Sie mir, dass das nur ein Albtraum ist… Und dass ich den Twingo gewonnen habe…

Natacha: Leider nicht, Kimberley. Sie haben wirklich das große Los gezogen

Edouard: Sie sind nicht in einem voll klimatisierten Twingo, sondern in einem fliegenden Sarg mit rationiertem Sauerstoff.

Kimberley: Dann stimmt es, dass wir alle sterben werden?

Natacha: Nicht alle, das garantiere ich Ihnen.

Igor: Sie haben sich wenigstens Ihren Optimismus bewahrt…

Kimberley: Also gibt’s doch noch eine Lösung?

Edouard: Ja. (ironisch) Die Kapsel…

Kimberley: Haben wir eine Rettungskapsel? Dann sind wir ja doch gerettet!

Edouard: Die Kapsel mit dem Zyankali! Haben Sie’s noch immer nicht begriffen? Einer von uns ist zu viel an Bord. Und uns bleibt eine knappe Stunde, um zu entscheiden, wer.

Kimberley: Oh, mein Gott, ich hab’s geahnt, dass ich besser auf der Erde geblieben wäre. Ich hätte auf meine Mutter hören sollen: eine Frau von Welt gehört nicht ins All. Das ist bestimmt eine Strafe des Himmels. Denken Sie nur an den Fall des Ikarus.

Edouard: Wer ist jetzt das schon wieder?

Kimberley: Eine Figur aus der griechischen Mythologie! Er bildet sich ein, dass er wie ein Vogel zum Himmel fliegen kann. Zur Strafe lassen die Götter seine Flügel in der Sonne schmelzen…

Igor (zu Natacha): Sagen Sie denen, dass Gott tot ist. Sie arbeiten doch an der Urknall-Theorie. Gerade Sie sollten wissen, dass die Erde nicht von diesem alten Mann mit Bart erschaffen worden ist…

Natacha: Bleibt nur herauszufinden, wer die Lunte für den Urknall angesteckt hat…

Igor: Gut, wir haben leider keine Zeit zum Philosophieren. Also, was machen wir jetzt? Streichhölzer ziehen?

Edouard: Auf gar keinen Fall, das wäre zu einfach!

Igor: Sie könnten damit anfangen, dass Sie die Axt weglegen.

Widerwillig legt Edouard die Axt beiseite.

Edouard: Sie sind doch der Pilot, oder? Sie haben uns in diese Scheiße reingeritten. Sie waren der Einzige, der Bescheid wusste – und haben uns nichts gesagt! Jetzt müssen Sie auch die Verantwortung übernehmen! Auf Schiffen geht der Kapitän mit seinem Kahn unter. Nachdem er alle Passagiere in Rettungsbooten untergebracht hat!

Igor: Mensch, Spider Schwein, komm wieder runter auf den Boden der Vernunft!

Edouard: Würde ich ja gern, glauben Sie mir. Und ich verbitte mir, dass Sie mich duzen.

Igor: He Kumpel, wir sind nicht im Kino!

Kimberley: Aber schon wie auf der Titanic…

Igor: Ich bin nur Untergebener. Ich habe nur Anweisungen ausgeführt.

Edouard: Das haben die SS-Leute in den KZs auch gesagt.

Die beiden Männer sind kurz davor, aufeinander loszugehen. Natacha greift ein.

Natacha: Leute, das bringt doch nichts, jetzt die Nerven zu verlieren. Außer, dass wir unseren bisschen verbleibenden Sauerstoff vergeuden… Aber Igor hat Recht. Es wäre ungerecht, einen Schuldigen zu suchen. Und selbst wenn wir einen ausmachen könnten – ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, dass die Todesstrafe in den meisten Demokratien abgeschafft ist.

Edouard (zeigt in Richtung Glasfront / Zuschauerraum): Dann brauchen wir ja nur zu warten, bis wir China oder die USA überfliegen.

Natacha: Die wahren Schuldigen sind da unten, das steht fest. Und als wir uns auf diese Reise gemacht haben, haben wir alle gewusst, dass es gefährlicher wird als eine Woche im Club-Hotel in Tunesien.

Kimberley: Ich war letztes Jahr in Djerba, da habe ich mir Montezumas Rache eingefangen…

Die drei anderen sehen sie etwas verständnislos an.

Edouard: Ok, wir vergessen mal das Volksgericht. Also, wie machen wir das jetzt? (Totenstille) Wir könnten versuchen, den oder die auszumachen, die für die Menschheit der geringste Verlust wäre.

Igor (ironisch): Irgendetwas sagt mir, dass Sie sich aus bestimmten Gründen für unersetzlich halten.

Edouard: Ich stehe an der Spitze eines Unternehmens, das mehr als 200.000 Mitarbeiter weltweit beschäftigt.

Igor: Und Sie glauben wirklich, dass Ihre Wurstfabrik ohne Sie nicht überleben würde? Pff – die Aktionäre wählen einen neuen Vorstandsvorsitzenden und das wär’s.

Edouard: Und Sie? Halten Sie sich für unersetzlicher als mich?

Igor: Na, erstens kann ich diese Raumfähre fliegen.

Natacha: Ich auch…

Edouard: Na, da sehen Sie‘s, einer von Ihnen beiden reicht als Chauffeur und Room Service. Der andere kann verschwinden. (Zu Natacha) Wie wär’s mit Ihnen?

Igor: Halten Sie sich für wichtiger als eine zukünftige Nobelpreisträgerin?

Edouard: Wieso denn nicht?

Igor: Sie haben Recht. Wenn es einen Nobelpreis für Würste gäbe, dann würde er bestimmt Ihnen verliehen.

Edouard: Meine Würste ernähren fast ein Drittel der Menschheit. (Zu Natacha) Woran forschen Sie gleich wieder?

Natacha: An der Schöpfung.

Edouard: Und wozu soll das gut sein?

Natacha: Zu nichts.

Edouard: Und haben Sie eine Antwort auf Ihre Fragen?

Natacha: Nein.

Igor: In diesem Fall weiß ich nicht – egal wie nobelpreisverdächtig Sie sind – was Ihnen das Recht gibt, sich für unersetzlicher als uns zu halten.

Natacha: Das habe ich nie behauptet.

Erneutes Schweigen.

Edouard (zu Kimberley): Und Sie?

Kimberley: Was, ich?

Edouard: Geben Sie uns einen Grund, warum das Schicksal der Erde besiegelt wäre, wenn Sie nicht lebendig zurückkämen…

Kimberley (mit Pathos) Auf mich warten zwei Katzen und ein Kanarienvogel… ganz zu schweigen von meiner Mutter…

Natacha: Jetzt reicht’s! So kommen wir auch nicht weiter! Es ist doch monströs, den Wert eines Menschenlebens über ein anderes zu stellen! Ich mag vielleicht nichts Großartiges entdeckt haben, aber eines weiß ich: kein Leben ist weniger wertvoll als ein anderes.

Edouard: Großartig. Dann stimmen wir eben ab.

Kimberley: Worüber?

Edouard: Eben haben Sie mir die Demokratie vorgehalten. Und dass es ein Zeichen von Größe sein kann, sich für andere zu opfern. Also, lassen Sie uns abstimmen, wen wir dafür als den Würdigsten ansehen.

Natacha: Auf gar keinen Fall!

Edouard: Sie brauchen ja nicht mit abzustimmen. Wir leben in einer Demokratie. Aber es hält uns nichts davon ab, für Sie zu stimmen, sonst ist es zu einfach…

Edouard greift nach einem Notizblock und einem Stift.

Edouard: Jeder schreibt einen Namen auf ein Blatt, faltet es und Natacha übernimmt dann die Auszählung. Igor?

Igor: Und Sie schwören, dass Sie das Ergebnis anerkennen?

Edouard: Das schwöre ich.

Edouard schreibt einen Namen auf ein Blatt, reißt es heraus, faltet es und legt es auf den Tisch. Dann reicht er Block und Stift weiter an Igor.

Edouard: Sie sind dran.

Igor: Sind Sie wirklich so von sich überzeugt?

Edouard: Und Sie?

Igor macht dasselbe wie Edouard und gibt dann Block und Stift an Kimberley weiter.

Edouard: Auf jeden Fall verspreche ich Ihnen eines, Kimberley: wenn wir beide heil hier rauskommen, kriegen Sie Ihren Twingo. Ich kümmere mich höchstpersönlich darum…

Igor wirft ihm einen vernichtenden Blick zu. Kimberley zögert, dann schreibt sie einen Namen auf ein Blatt, reißt das Blatt heraus, faltet es und legt es auf den Tisch.

Edouard: Natacha… Sie haben die ehrenvolle Aufgabe, das Ergebnis der Abstimmung zu verkünden.

Widerwillig greift Natacha nach einem Blatt und liest vor.

Natacha: Igor… (greift spürbar angespannt nach einem anderen Papier) Edouard … (Sie nimmt das dritte Blatt) Kimberley… (erleichtert) Aus der Abstimmung geht kein Märtyrer hervor.

Igor (zu Edouard): Ich habe gegen Sie gestimmt… Und Sie gegen mich… Wer hat dann gegen Kimberley gestimmt?

Kimberley: Ich selbst…

Natacha: Sie opfern sich freiwillig?

Kimberley: Ich hab mich geirrt… Ich hab gedacht, dass jeder für denjenigen stimmt, der gerettet werden soll…

Mitfühlende Blicke der anderen.

Edouard: Tja, so kommen wir nie zu einer Entscheidung!

Igor: Und gehen alle drauf. (Er schaut auf seine Uhr) In ungefähr zwei Stunden.

Edouard: Na, wie wär’s denn, wenn wir, statt zu diskutieren, so schnell wie möglich den Heimflug antreten?

Igor: Wir kommen erst in ungefähr einer halben Stunde wieder in eine Position, aus der wir in die Erdatmosphäre eintreten können.

Natacha: Andernfalls treiben wir ab in eine entfernte Umlaufbahn und müssen ewig um die Erde kreisen.

Edouard: Und die haben mir diese Reise ohne Heimkehr als Vergnügungsreise verkauft…

Igor: Wir haben noch eine knappe halbe Stunde Zeit, um herauszufinden, wer von uns vier das Zeug zum Helden hat.

Natacha: Die Dichter antiker griechischer Tragödien würden uns um diese Konstellation beneiden. Wenn keiner von uns in den Freitod geht, sterben wir alle. Jeder von uns hat also die Wahl, als Einziger zu sterben und die drei anderen zu retten oder ehrlos mit den drei Anderen zu sterben…

Kimberley: Oder im Stillen zu hoffen, dass ein anderer sich für ihn opfert…

Natacha: Egal, ob wir einen oder eine Auserwählte finden, das bringt uns hier nicht lebend raus. Wer sich opfert, um die anderen zu retten, muss es freiwillig tun.

Edouard: Perfekt… Freiwillige vor…

Stille.

Natacha: Ich mach’s.

Die drei anderen sind versteinert. Edouard reagiert als Erster.

Edouard: Ausgezeichnet. Das wäre geregelt. Wir sind Ihnen natürlich dankbar. Auch wenn es nur darum ging, wie Sie selber gesagt haben, dass entweder einer oder wir alle vier sterben…

Igor (zu Natacha): Wieso wollen Sie das tun? Wollen Sie die erste Menschheitserlöserin werden? Sie glauben ja noch nicht mal an Gott …

Edouard: Hat Sie jemand gefragt? Wenn sie sich dazu bereit erklärt… Ich übernehme auf jeden Fall die Kosten für die Beerdigung. Haben Sie diesbezüglich besondere Wünsche?

Igor: Schnauze. Natacha, Sie werden doch nicht für einen Wurstfabrikanten Ihr Leben hergeben… für dieses Würstchen.

Kimberley: Welches Würstchen?

Natacha: Wer sagt Ihnen, dass ich nicht für Sie mein Leben hergebe?

Igor: Ich bin’s nicht wert, das können Sie mir glauben.

Natacha: Ich tu’s aus Stolz. Wenn wir schon draufgehen, dann mit wehender Fahne. Da bin ich ganz Freigeist wie Cyrano…

Igor: Das werde ich nicht zulassen.

Natacha: Und wie wollen Sie mich davon abhalten?

Igor: Den Schlüssel zum Ersten-Hilfe-Schrank habe ich. Und wenn sich hier einer opfern muss, dann ich.

Edouard: Geht’s vielleicht, ohne dass Sie sich deswegen in die Haare kriegen?

Natacha: Sie wären wirklich bereit, sich für mich zu opfern? Wieso denn?

Igor: Weil Sie es wert sind.

Edouard: Eins steht fest: Sie dürfen nicht beide sterben, einer muss ja das Raumschiff zurück zur Erde bringen. (Mit Seitenblick auf Kimberley) Ich habe nämlich nur einen Lkw-Führerschein. Und diese reizende junge Frau wäre wohl nicht mal im Stande, ihren Twingo in der Garage zu parken.

Kimberley: Da bin ich anderer Meinung.

Edouard: Na gut, ich nehme das mit dem Twingo zurück.

Kimberley: Nein, ich bin der Meinung, dass sich weder Natacha noch Igor für uns opfern sollen.

Edouard: Fangen Sie jetzt nicht auch damit an. Wir waren fast durch.

Kimberley: Wie sollen wir denn damit weiterleben?

Edouard: Ach bestens, glauben Sie mir. (Schaut auf seine Uhr) Wir haben nur noch eine Viertelstunde, um uns zu entscheiden.

Igor: Na gut, was schlagen Sie vor?

Kimberley: Den Zufall entscheiden lassen… Das scheint mir die einzige gerechte Lösung zu sein.

Edouard: Gerecht, aber riskant…

Natacha: Ich frage mich, ob Kimberley nicht letzten Endes recht hat. Sofern alle einverstanden sind…

Edouard: Hab ich die Wahl?

Igor: Nicht wirklich…

Kimberley: Wenn wir’s nicht per Strohhalm entscheiden, wie dann?

Igor: Ich würde zwar gern Russisches Roulette vorschlagen, was in einer Sojus-Kapsel auch stilecht wäre. Aber Schusswaffen sind an Bord leider verboten. Außerdem: wenn die Kugel auf der anderen Schädelseite wieder austritt und in eine Kabinenwand einschlägt, käme es höchstwahrscheinlich zu einem Druckabfall. Das würde uns gerade noch fehlen…

Kimberley: Wir haben noch die Axt.

Natacha: Ach so… Und wie spielt man Russisches Roulette mit einer Axt?

Schweigen. Allgemeines Nachdenken.

Edouard: Wir könnten’s durch Pokern entscheiden. Ich habe Karten dabei… Jedes Streichholz steht für einen Liter Luft. Und der Verlierer muss aufhören zu atmen…

Kimberley: Ich weiß nicht, wie man Poker spielt.

Natacha: Ich auch nicht.

Edouard: Dann bringe ich’s Ihnen bei. Sie werden sehen, ist ein Kinderspiel.

Igor: Versuchen Sie bloß nicht, uns was vorzumachen. Poker ist ja gar kein Glücksspiel.

Edouard: Haben Sie eine bessere Idee…?

Igor: Vielleicht…

Igor geht Richtung Tür. Edouard verstellt ihm den Weg.

Edouard: Wo wollen Sie hin?

Igor: Ich hole uns was zum Trinken: Sie haben doch selber gesagt, dass ich für den Zimmerservice zuständig bin, oder?

Edouard: Ich bin dafür, dass wir zusammen bleiben. Sie wollen uns ja vielleicht nur reinlegen.

Igor: Sie haben mein Wort. Das muss Ihnen genügen. Außer, Sie wollen mich vom Rausgehen abhalten, mit Gewalt…

Sie starren sich herausfordernd an, bis sich Edouard letzten Endes abwendet.

Edouard: Schon gut. Wir sind ja hier schließlich unter zivilisierten Menschen…

Igor geht ab. Erneutes Schweigen. Natacha sieht durch das Panoramafenster zu den Sternen.

Natacha: Es mag für eine Astrophysikerin komisch klingen – aber ich habe mir bisher nie die Zeit genommen, die Sterne auf diese Weise zu betrachten, gewissermaßen interesselos…

Edouard (gleichgültig): Aha.

Natacha: Ich frage mich, ob das nicht die eigentliche Antwort ist…

Kimberley: Was für eine Antwort?

Edouard: Auf welche Frage?

Natacha: Nach dem Ursprung der Erde! Vielleicht ist die Antwort ja keine wissenschaftliche, sondern eine rein ästhetische, nach dem Motto: Wenn Gott ein Künstler wäre…?

Edouard zuckt mit den Achseln. Kimberley schaut auch zu den Sternen.

Kimberley: Es ist wahr, es ist wirklich schön.

Natacha (zu Edouard): Sie sind doch auch auf diese Reise gegangen, um die Sterne aus der Nähe zu sehen, oder?

Edouard: Hm…ja.

Natacha: Ich glaube, wir haben doch alle gewusst, dass wir auf dieser Reise so etwas wie den halben Weg zum Himmel zurücklegen.

Kimberley: Es wird Ihnen vielleicht komisch vorkommen, aber inzwischen bedauere ich das mit dem Twingo gar nicht mehr. Mir könnte jetzt gleich die Luft wegbleiben, aber das hätte ich wenigstens vorher noch gesehen… So lebendig habe ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt…

Natacha: Wir werden uns alle eines Tages in Luft auflösen, das sollte uns doch jeden Morgen beim Aufwachen bewusst sein. Das macht das Leben leichter. Und nicht einmal die Sterne bleiben davon verschont. Genau wie auch die Sonne eines Tages nicht mehr aufgehen wird.

Kimberley: Dann sind wir nichts anderes als Stars unter vielen anderen?

Natacha: Vier Sternchen, ja. Und eines zu viel…

Edouard: Vier Sterne in diesem Wrack? Kein Wunder, dass hier einer zu viel ist…

Natacha (sieht wieder zu den Sternen): Ein Stern zu viel, aber welcher? Hmm… vielleicht ist das ja das Geheimnis des Universums. Und seiner unablässigen Bewegung. Ein unermessliches Puzzle, das man nicht zusammenbekommt…, weil am Ende immer ein Teil übrig bleibt.

Edouard: Geht’s noch? Bei diesem Vollidioten sind wohl schon die Lichter im Hirn ausgegangen?!

Igor ist mit einem Tablett hereingekommen, auf dem vier Schalen mit Champagner stehen.

Igor: Wie wär’s, wenn wir auf das Neue Jahr anstoßen?

Edouard: Halten Sie das für den geeigneten Augenblick?

Igor: In einer von den Schalen ist das Zyankali.

Totenstille.

Edouard: Und Sie wissen, in welcher! Sie haben’s ja eingeschenkt!

Igor: Deswegen nehme ich auch die letzte Schale. Sie sind der Ehrengast, Sie dürfen sich als Erster bedienen…

Er hält Edouard das Tablett hin. Edouard zögert.

Edouard: Sie wissen wirklich, welche es ist?

Igor: Nein. Sonst wär’s ja witzlos.

Edouard ringt sich durch und greift nach einem Glas. Igor hält das Tablett Kimberley hin, die auch zögert.

Kimberley: Ich vertrag keinen Champagner, ich muss da immer aufstoßen.

Igor: Geht jetzt nicht anders …

Kimberley entschließt sich und nimmt ein Glas. Igor reicht das Tablett Natacha, die ohne zu zögern ein Glas nimmt. Danach bleibt für Igor das letzte Glas. Die vier rücken zusammen und heben ihre Gläser.

Igor: Auf das Wohl der Überlebenden

Alle vier leeren ihr Glas in einem Zug.

Kimberley: Schön kühl… Haben wir keine Erdnüsse?

Licht aus.

DRITTER AKT

Die Vier sitzen um einen Tisch. Gedämpfte Stimmung.

Kimberley: Ich hab gedacht, dass es viel lauter ist, in den Raketen. Hören Sie diese Stille? Wenn man das nicht gewohnt ist… tut es fast weh in den Ohren…

Edouard: Der Beweis, dass wir noch am Leben sind.

Kimberley: Es ist noch leiser als bei meiner Oma. Die wohnt in Limoges…

Natacha: Im luftleeren Raum kann sich Schall nicht ausbreiten – deswegen hört man nichts.

Kimberley: In Limoges?

Natacha: Im All!

Igor: Dabei ist der Kosmos alles andere als leise. Die meisten Sterne, die Sie am Himmel leuchten sehen, sind schon seit Jahrtausenden verglüht, in einem nuklearen Feuerwerk. Wenn Gott existiert, dann ist er eher so ein Dr. Strangelove à la Stanley Kubrick, kein Georges Moustaki.

Kimberley: Also müssen Sterne auch sterben…

Igor: Ja. Und sie sterben, ohne einen Laut von sich zu geben.

Schweigen.

Edouard: Können wir nicht mal ein bisschen Musik anmachen… Hier kriegt man ja einen Koller.

Natacha: „Die ewige Stille dieser unendlichen Weltenräume flößt mir schreckliche Angst ein.“

Edouard: Ja, so hab ich’s gemeint.

Natacha: Das ist von Blaise Pascal, dem Philosophen.

Edouard: Pascal?

Igor: Ein Philosoph, der das ungefähr so wie Sie ausgedrückt hat…

Kimberley isst von ihrem Teller.

Kimberley: Schmeckt eigentlich gar nicht so übel, der dehydrierte Gänsebraten…

Edouard: Apropos dehydriert… Das bringt mich auf eine Idee: wie wär’s, wenn ich meine Produktion auf dehydrierte Würste verlege? Viel praktischer zu transportieren, vor allem ins Ausland. (Deutet mit den Fingern die Wurstlänge an) So eine geschrumpfte Wurst, nicht länger als mein kleiner Finger. Kurz vor dem Essen ins Wasser getaucht und hopp! – verwandelt sie sich in eine stattliche Knackwurst.

Kimberley: Frisch schmecken aber Rosskastanien besser.

Igor: Wie sehen frische Rosskastanien eigentlich aus?

Kimberley: Wie kandierte Rosskastanien?

Edouard: Eher wie gebratene Esskastanien, oder?

Natacha: Ich spüre noch kein Symptom. Und Sie?

Kimberley: Ich auch nicht…

Igor: Es dauert, bis das Gift wirkt.

Edouard: Wie lange?

Igor: Eine knappe Viertelstunde, schätze ich.

Kimberley: Ist Zyankali schmerzhaft?

Igor: Ich weiß nicht. Ich hab noch nie welches eingenommen. Ich meine: bis heute…

Natacha: Wieso sollte es Sie treffen? Sie haben gesagt, dass Sie nicht wissen, in welchem Glas das Gift ist.

Igor: Sagen wir mal … nach meinem Bauchgefühl.

Natacha: So viel ich weiß, verursacht Zyankali zuerst Krämpfe, dann verliert man das Bewusstsein und zuletzt fällt man in ein tiefes Koma…

Edouard: Na, das ist ja allerhand… vor diesen ganzen Nebenwirkungen hatten Sie uns gar nicht gewarnt …

Natacha: Da es sich um eine hochgiftige Substanz handelt, besteht die vorrangige Nebenwirkung im Tod, der im Allgemeinen durch Herzstillstand eintritt.

Alle schlucken.

Igor: Es war das Lieblingsgift der Nazi-Aristokratie. Auf die Weise hat Göring Selbstmord begangen, um sich seiner Hinrichtung nach den Nürnberger Prozessen zu entziehen.

Edouard: Selbstmord begehen, um einer Hinrichtung zu entgehen… Bringt ja auch nichts…

Natacha: Wie auch immer, einer von uns wird in den nächsten Minuten sterben. Wie wär’s, wenn jeder sagt, was er in seinem nächsten Leben anders machen würde, wenn er eines hätte. Wir können nicht so weitermachen wie bisher, oder?

Igor: Sehr gut… Fangen Sie gleich damit an…

Natacha: Hmm… ich glaube, ich würde noch einmal in dieses super-teure Geschäft gehen, wo ich ein paar zum Sterben schöne Schuhe gesehen habe…

Edouard: Ist das alles?

Natacha: Damals habe ich den Preis so was von unverschämt gefunden. Aber nach unserem Abenteuer begreife ich, wie wichtig es ist, sich etwas so ausgefallen Oberflächliches, Frivoles zu gönnen… Und Sie, Edouard?

Edouard: Zuerst mal würde ich nie wieder gestampften Stallboden unter meinen Füßen aufgeben… Schließlich sind die Sterne auch von unten schön. Wenn man ihnen zu nahe kommen will, dann verbrennt man sich die Flügel, wie dieser Typ da… (die anderen blicken verständnislos) Na, dieser Ikarus!

Natacha: Ach so. … Und was noch?

Edouard: Ich werde eine Stiftung gründen…

Igor: Sie?

Edouard: Warum denn nicht? Wie Bill Gates!

Natacha: Und was wäre der Zweck dieser Stiftung?

Edouard: Was weiß denn ich… Mit dem Hunger in der Welt Schluss machen, zum Beispiel…

Igor: Das ist… das ist gut.

Edouard: Ich war nicht immer so reich, wissen Sie. Ich bin nicht mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen, wie man so schön sagt.

Kimberley: Heißt es nicht: mit einem silbernen Löffel?

Edouard: Wie auch immer…. Bei mir war’s sowieso eher ein silberner Löffel. Mein Vater gehörte zum jüngeren Zweig unserer Familie. Deswegen habe ich beim Tod meines Großvaters nur ungefähr ein Fünftel von seinem Vermögen geerbt. War auch schon eine schöne Stange Geld, aber… Zu dem Fleisch-Imperium bin ich erst gekommen, als mein Onkel gestorben ist…

Igor: Da haben Sie ja weiß Gott eine unglückliche Kindheit gehabt…

Edouard: Weiß Gott. Wenn ich’s zum Wurstkönig gebracht habe, dann genau genommen, weil’s mir darum ging, allen Menschen etwas zum Essen zu verschaffen… Auf meine Weise bin ich nämlich auch ein Idealist…

Igor: Wie hat man nur den Revolutionär verkennen können, der in Ihnen schlummert!… Wenn es hier mit Ihnen zu Ende geht, dann werden wir ein Denkmal für Sie errichten lassen – versprochen! Und was ist mit Ihnen, Kimberley?

Kimberley: Ich nehme mein Studium fernöstlicher Sprachen wieder auf.

Natacha: Sie haben studiert?

Kimberley: Überrascht Sie das?

Natacha: Ich meine nur… ein Studium fernöstlicher Sprachen?

Kimberley: Ja, ich wollte Dolmetscherin werden. Aber ich hab’s abgebrochen, als ich bei der Miss-Wahl mitgemacht habe…

Edouard: Sind Sie zur Miss Frankreich gewählt worden?

Kimberley: Ich hätte’s schaffen können! Aber ich habe vor dem Finale aufgeben müssen… Einer von meinen früheren Lovern hat einen Film ins Internet gestellt, den ich vor Langem gedreht habe, nichts Großartiges… Nur eine Jugendsünde…

Edouard (gespannt): Echt?

Igor: Dann sprechen Sie mehrere Sprachen?

Kimberley: Japanisch und Mandarin fließend. Und mit Russisch komme ich auch ganz gut zurecht.

Igor: Das hätte ich vorhin wissen müssen, als ich in diesem Erste-Hilfe-Arsenal rumgestöbert habe. Ich hab einfach das Zyankali nicht finden können. Es war alles auf Koreanisch beschriftet… glaube ich zumindest…

Kimberley: Mit Koreanisch kenne ich mich auch etwas aus. Eine sehr schöne Sprache, sehr musikalisch.

Edouard: Vor allem das Südkoreanische, schätze ich mal.

Kimberley: Ach ja? Wieso?

Edouard: Im Süden spricht man doch immer etwas melodischer, nicht?

Kimberley: Naja…

Natacha: Und Sie, Igor?

Igor (sichtbar mit Anderem beschäftigt): Ich glaube, das ist jetzt kein guter Zeitpunkt für mich, um Zukunftspläne zu schmieden…

Kimberley: Mein Gott! Spüren Sie schon die ersten Wehen? Ich meine: Krämpfe?

Igor: Ich lasse Sie noch weiter ins Neue Jahr feiern… (Er steht mit Mühe auf und reicht Natacha einen Brief) Hier. Ich habe Ihnen ein paar Zeilen geschrieben, für den Fall… (Natascha nimmt den Brief geistesabwesend entgegen) Lesen Sie ihn, sobald ich nicht mehr da bin. Ich mag keine Abschiede…

Natacha (betroffen): Ich begleite Sie.

Igor: Nein, nicht nötig. Ich gehe lieber allein… Ich wünsche Ihnen allen einen guten Flug…

Kimberley: Ebenso…

Er verlässt die Szene, die anderen drei bleiben versteinert zurück.

Edouard: Die Besten erwischt es immer zuerst.

Natacha steht auf, nimmt das leere Glas von Igor, prüft den Bodensatz und riecht daran.

Natacha: Da war gar kein Zyankali in seinem Glas.

Edouard: Woher wissen Sie das?

Natacha: Zyankali verbreitet immer einen leichten Geruch nach bitteren Mandeln. Es ist mir manchmal im Labor untergekommen. Und ich hab eine feine Nase…

Kimberley greift ebenfalls nach dem Glas und riecht daran.

Kimberley: Ich auch. Ich habe eine Anti-Allergie-Seife, die riecht genau so.

Edouard (besorgt): Also ist es nur die Gans, die ihm schlecht bekommen ist und sterben wird einer von uns dreien?

Natacha riecht auch an den anderen drei Gläsern.

Natacha: In keinem der vier Gläser war Zyankali.

Kimberley: Aber er hat gar nicht gut ausgesehen.

Edouard: Was soll das heißen?

Natacha: Das heißt, dass er das Gift zu sich genommen hat, noch bevor er die Gläser eingeschenkt hat. In voller Absicht. Sie haben ja auch gesehen, dass er genau wusste, dass er sterben wird. Warum hätte er sonst diesen Brief geschrieben…?

Kimberley: Aber… warum?

Natacha: Er hat sich für uns geopfert. Freiwillig. Aber er wollte nicht, dass wir es erfahren…

Edouard: Warum denn? Das ist doch sinnlos!

Natacha: Bestimmt, um unser Gewissen zu beruhigen. Wir sollten glauben, dass das Schicksal gewollt hat, dass wir gerettet werden – und nicht sein Freitod. Außerdem geht es den wahren Helden nicht um die Ehre…

Kimberley: Mein Gott…

Edouard: Was für ein Mann…

Natacha: Ja…

Edouard: Und was steht in dem Brief?

Natacha: Den lese ich lieber erst später, wenn Sie erlauben…

Edouard: Ja klar, aber… vielleicht ist es wichtig… Er war doch der Pilot… Ich weiß nicht… Vielleicht sind das die Anweisungen für die Landung.

Natacha gibt nach, öffnet den Umschlag und beginnt, den Brief leise zu lesen. Die anderen sehen ihr gespannt zu.

Kimberley: Und?

Natacha: Es ist eine Art Testament…

Edouard: Hat er uns etwas hinterlassen? Das ist wirklich großzügig von ihm…

Kimberley wirft ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.

Natacha: Es ist eher so etwas wie ein moralischer Nachlass…

Edouard: Moralisch… Inwiefern?

Natacha: Er möchte, dass Ihre Stiftung seinen Namen trägt…

Edouard: Welche Stiftung? (Die beiden anderen werfen ihm einen ungläubigen Blick zu.) Ach ja … die Stiftung.

Kimberley: Um Himmels willen…

Natacha: Und Sie, Kimberley, Sie sollen auch Ihr Versprechen halten…

Kimberley: Mein Versprechen?

Natacha: Ja, das Versprechen, Ihr Studium wieder aufzunehmen… Er hinterlässt Ihnen sein Sparbuch, damit Sie das auch verwirklichen können…

Edouard: Mit wie viel drauf?

Natacha: Fünfzehntausend Euro.

Edouard: Ah… Immerhin.

Kimberley: Für Sie wird er doch auch ein paar Worte übrig gehabt haben…

Natacha: Ja, da sind ein paar Empfehlungen für die Landung. Das zweite Triebwerk hat etwas Schub verloren …

Edouard: Und…?

Natacha (bewegt): Der Rest ist sehr persönlich…

Edouard und Kimberley tauschen einen verlegenen Blick aus, als sie sehen, dass Natacha kurz davor ist, in Tränen auszubrechen. Plötzlich beginnt das Funkgerät an der Wand, wieder rot zu blinken. Natacha nimmt mechanisch ab.

Natacha: Ja…? (fassungslos) Nein? Und das sagen Sie uns erst jetzt? Ok, ich melde mich wieder…

Edouard und Kimberley sehen sie fragend an.

Edouard: Was ist jetzt wieder los?

Natacha: Sie haben es hinbekommen, das Leck in der Hauptbelüftungsanlage wieder abzudichten…

Edouard: Und das heißt?

Natacha: Wir haben wieder für alle genug Sauerstoff bis zur Landung.

Kimberley: Großartig! (begreift) Oh, mein Gott! Igor…

Natacha (läuft überstürzt raus) Ich sehe nach, ob es noch nicht zu spät ist…

Edouard und Kimberley bleiben allein zurück.

Edouard: Solche Versager… Die bekommen was von mir zu hören, da unten. Präsentiert haben sie‘s uns wie einen Luxuszug à la Orient Express… Zusammengestückelt, ja. Das Triebwerk vom amerikanischen Shuttle, das Cockpit von der Europäischen Raumstation, die Sauerstoffversorgung von den Russen…

Kimberley: Und der Erste-Hilfe-Schrank von den Nordkoreanern.

Edouard: Das ist der Turm von Baby Bel, diese Rakete! Ich werde mein Geld zurückverlangen. Aber Hauptsache, wir sind am Leben! Wir haben’s geschafft, wir sind aus dem Schneider, Kimberley! Ist Ihnen das klar? Sie sehen nicht besonders zufrieden aus…

Kimberley: Armer Igor…

Edouard: Tja… Das kommt dabei heraus, wenn man den Helden spielt… Es war schon gut, keinen vorauseilenden Gehorsam zu leisten…

Kimberley: Immerhin… Was für eine Courage… Und gut ausgesehen hat er auch, ehrlich gesagt…

Edouard: Und wie steht’s mit mir? Knackig frisch! (Munter) Und Sie, Sie haben als junges Mädchen in einem Pornofilm mitgemacht? Das sind ja ganz neue Seiten, die ich an Ihnen entdecke, Kimberley. Und polyglott sind Sie auch noch!

Kimberley: Danke!

Edouard: Sagen Sie mal, Kimberley, dieses ganze Abenteuer hat mich nachdenklich gemacht. Oder reifer, würde ich sogar sagen… Ich habe einen Vorschlag für Sie. Ich bräuchte jemanden, dem ich vertrauen kann, für die Leitung…-

Kimberley (begeistert): … Ihrer Stiftung?

Edouard: Welche Stiftung?

Kimberley: Ihre Welthungerhilfe!

Edouard: Ach die… Nein, ich habe eher daran gedacht… kommt auf das Gleiche heraus… Ich suche jemand für die Vertriebsleitung, der den asiatischen Markt erobert…

Kimberley: Den asiatischen Markt?

Edouard: Ich bin sicher, dass Sie in diesem Teil der Welt eine großartige Botschafterin für Wurst wären.

Kimberley: Glauben Sie wirklich…?

Edouard: Sie sprechen fast so viele Sprachen wie der Papst, aber mit Ihrem Aussehen… Das spielt heutzutage eine große Rolle, das Aussehen! Wie soll der Vatikan mit so einem zerknitterten Vertreter, der wie eine dehydrierte Wurst aussieht, nach China expandieren?

Kimberley: Eine dehydrierte Wurst?

Edouard: Eine Milliarde Chinesen, die heute nichts als Nems und Frühlingsrollen zum Beißen haben! Stellen Sie sich nur vor: wenn Sie die alle zur Wurst bekehren könnten? Das wär ein Gemetzel!

Kimberley: Mhm…

Edouard: Und was die Werbung angeht, unter uns, mir ist da eine geniale Idee gekommen, als ich mit Ihnen vorhin den Himmel bewundert habe…

Kimberley: Ach ja…?

Edouard mach eine theatralische Geste in Richtung Mond, die seine tolle Idee unterstreichen soll.

Edouard: Ich projiziere mit einem Laser von einem Satelliten aus ein Bild von meiner Wurst auf die Mondoberfläche, mit meinem Namen drauf in Großbuchstaben! Können Sie sich die Wirkung vorstellen? Das wäre von überall auf der Erde sichtbar! Und das im Zeitalter der Globalisierung!

Kimberley ist ganz betäubt, aber kommt nicht mehr zu einer Antwort. Natacha ist hereingekommen, vollkommen aufgelöst.

Natacha: Er liegt bewusstlos in seiner Koje… Nicht wach zu bekommen… Ich werde ihm folgen…

Edouard: Wie: ihm folgen?

Kimberley nimmt Natacha Tablettenröhrchen aus den Händen.

Kimberley: Oh, mein Gott… Sie hat auch eine von den Zyankali-Kapseln geschluckt…

Edouard: Bloß das nicht! Dann gehen wir alle drauf! (Kimberley sieht erstaunt zu ihm) Wer soll denn jetzt die Raumfähre zur Erde zurückbringen?

Natacha: Ach, das hab ich ganz vergessen… Lebt wohl und werdet glücklich miteinander. Ich folge dem geliebten Mann nach. Für alle Ewigkeit… Aber erst mache ich noch einen Umweg über die Toilette…

Natacha geht ab.

Edouard (außer sich): Die haben uns aber auch nichts erspart…

Kimberley: Ist das nicht erschütternd?

Edouard: Was?

Kimberley: Erst Igor, dann Natacha… Er beschließt zu sterben, um sie zu retten und sie folgt ihm in den Tod nach. Das ist wahnsinnig romantisch!

Edouard: Das ist vor allem echt bescheuert.

Kimberley: Das ist echt Shakespeare! Was für ein Liebesbeweis! Würden Sie für mich in den Tod gehen?

Edouard: Ich hab jetzt sowieso keine andere Wahl mehr. Wir werden alle umkommen.

In diesem Augenblick erscheint Igor wieder. Er taumelt. Auch er hält eine Tablettenröhrchen in den Händen.

Kimberley (verwundert): Das ist jetzt aber echt wie bei Romeo und Julia…

Igor: Ich versteh nicht, ich hab zwei Zyankali-Kapseln geschluckt und fühl mich nur leicht schläfrig…

Kimberley untersucht neugierig das Röhrchen, das Igor in der Hand hatte.

Kimberley: Das ist kein Nordkoreanisch, das ist Südvietnamesisch. (Sie schaut noch einmal nach) Und das ist kein Zyankali – das ist ein Schlafmittel, mit Haltbarkeitsdatum bis 1973.

Edouard: Kein Wunder, dass es nicht mehr wirkt. Aber dann sind wir gerettet. Er kann die Raumfähre zurück zur Erde steuern. Wenn wir’s schaffen, ihn noch eine knappe Stunde wachzuhalten…

Igor: Wo ist Natacha?

Kimberley (verlegen): Jaa… es ist so, dass… –

Edouard: Fühlen Sie sich wieder flugtüchtig? Sonst – zeigen Sie mir schnell, wie alles funktioniert, bevor Sie wieder einschlafen. Es kann ja nicht so kompliziert sein, eine Rakete zu steuern… Wie gesagt, ich hab bei der Armee den LKW-Führerschein gemacht.

Igor: Was ist passiert?

Kimberley: Wir sind gerettet, Herr Kommandant. Die haben’s geschafft das Hauptbelüftungssystem zu reparieren. Wir können wieder nach Hause…

Igor: Und Natacha? Was ist mit ihr, sagen Sie schon!

Kimberley: Es ist so, dass… –

Edouard: Na, kommen Sie schon, es laufen doch auch noch andere schöne Frauen rum…

Kimberley: Sie hat Sie für tot gehalten…

Igor sieht das Röhrchen, das Natacha auf dem Tisch gelassen hat und nimmt es auf.

Igor: Sie hat doch nicht… –

Kimberley: Leider doch, Igor… Aber Sie können sicher sein: sie hat Sie auch geliebt…

Igor: Oh, mein Gott… Dann wäre ich auch lieber tot…

Edouard: Ach neee! Nicht schon wieder! Es nervt langsam!

Kimberley nimmt Igor das Röhrchen aus der Hand und liest, was drauf steht.

Kimberley: Edouard hat Recht. Das würde ich an Ihrer Stelle sein lassen… Igor und Edouard sehen sie fragend an) Das ist auch kein Nordkoreanisch, das ist Tibetisch… (Sie schaut noch einmal nach) Und das ist auch kein Zyankali, sondern ein starkes Abführmittel auf pflanzlicher Basis…

Edouard: Mit abgelaufener Haltbarkeit?

Kimberley: Leider nein…

Edouard: Und das bei diesen Toiletten mit Schwerelosigkeit…

Kimberley: Das wird ein echter Tsunami…

Natacha kommt hereingelaufen.

Natacha: Weiß vielleicht einer, wo in dieser Raumfähre noch Reserve-Klopapier ist… (Sie sieht Igor) Igor? Sie leben ja noch?!

Igor: Ja, Natacha! Wie durch ein Wunder! Wir sind gerettet! Es war nur ein Schlafmittel! Und Sie, Sie werden mit Montezumas Rache davonkommen!

Natacha: Das ist echt …wunderbar!

Igor: Ich liebe Sie, Natacha. Vom ersten Augenblick an, als ich Sie gesehen habe. Wollen Sie meine Frau werden?

Natacha: Ja, Igor… (Sie umarmt ihn unter den gerührten Blicken der anderen Beiden) Aber entschuldigen Sie mich einen Moment, ich komme gleich wieder…

Sie läuft raus und hält sich dabei den Bauch. Igor fällt derweil wieder in tiefen Schlaf.

Edouard: Das sind die zwei Richtigen, um diese Müllkutsche heimzubringen…

Kimberley ist den Tränen nahe und flüchtet sich in die Arme von Edouard.

Kimberley: Mein Gott! Diese ganzen Emotionen… Ich glaube, mein armes Herz wird gleich aufhören zu schlagen…

Edouard (etwas durcheinander): Sie haben Recht… Mir wird auch allmählich bewusst, wie kurz das Leben ist… Und nach allem, was wir gerade gemeinsam durchgemacht haben… Wollen Sie mich heiraten, Kimberley?

Kimberley: Wären Sie wirklich bereit, mich zu heiraten, Edouard? Trotz meiner Jugendsünden?

Edouard: Das Schlimmste liegt hinter uns. Das Beste kommt erst. Ich verspreche Ihnen den Mond, Kimberley!

Kimberley: Den Mond?

Edouard: Wenn ich Sie heirate, tragen Sie meinen Namen! Sie wissen doch: der Laser! Der Name des Wurstkönigs, in Großbuchstaben auf den Mond projiziert. Wollen Sie meine Königin werden, Kimberley?

Kimberley: Bekomme ich dann auch meinen Twingo?

Edouard: Das wird Ihr Hochzeitsgeschenk! Mit allem Zubehör! Einschließlich Zigarettenanzünder und eingebautem Wurstgrill!

Kimberley: Oh, Edouard… also, ja… Ich nehme Ihren Antrag an…

Sie wollen sich gerade umarmen, als das Funkgerät wieder rot blinkt. Sie tauschen einen besorgten Blick aus. Schließlich nimmt Edouard ab.

Edouard: Ja…? (Er hört einen Moment mit ernster Miene zu, dann dreht er sich zu Kimberley, mit breitem Lächeln) Sie haben es sogar geschafft, das verstopfte Klo in Ordnung zu bringen!

Kimberley: Na dann: Ende gut, alles gut…

Ende

Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales, EHESS; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.

Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französisch-sprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 80 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt.

Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. In Papierform können die Texte über die Webseite The Book Edition bestellt werden (zum Preis der entsprechenden Fotokopien).

Zum Übersetzer

Dr. phil. Hans-Joachim Bopst, Studium von Romanistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache; nach über 10 Jahren Lehre an französischen Universitäten seit 1992 in der Übersetzerausbildung an der Universität Mainz / Germersheim tätig; Lehre, Forschung, Veröffentlichungen und Übersetzungen zu Tourismus, Sprachwissenschaft, Didaktik; zahlreiche Gastdozenturen, Vorträge und Workshops an in- und ausländischen Universitäten; seit 2016 Übersetzung der Komödien von Jean-Pierre Martinez.

Grundlage für die deutsche Übersetzung der Stücke von Jean Pierre Martinez waren Übersetzungsübungen, die unter meiner Leitung am Fachbereich Translations-, Sprach und Kulturwissenschaft (FTSK) der Universität Mainz / Germersheim zwischen 2018 und 2020 stattfanden.

Mein Dank für Kreativität, Korrekturen und Tipps an alle beitragenden Studierenden und Kolleg*innen !

Hans-Joachim Bopst

In deutscher Übersetzung liegen folgende Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez vor:

Die Touristen

Vier Sterne

Freitag, der 13.

Strip Poker

Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez einschließlich der Übersetzungen können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden:

comediatheque.net

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist nach den Bestimmungen über geistiges Eigentum urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung des Werks – insbesondere die Bühnenaufführung – außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes und ohne Einwilligung von Autor und Übersetzer ist unzulässig und strafbar und kann zu hohen Schadensersatzansprüchen führen.

Text-Download: kostenlos

Paris / Heidelberg / Germersheim – März 2020

© La Comédi@thèque – ISBN 978-2-37705-418-3

Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez einschließlich der Übersetzungen können als pdf-Datei gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden oder von ihm als Buch bezogen werden : LA COMÉDIATHÈQUE

Vier Sterne Lire la suite »

Die Touristen

Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez in deutscher Übersetzung

Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (EHESS, Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.
Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französisch-sprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 70 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt.
Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. In Papierform (zum Preis der entsprechenden Fotokopien) können die Texte über die Webseite The Book Edition bestellt werden. Die Rechte für die Bühnenaufführung können / müssen über die Verwertungsgesellschaft SACD erworben werden.


Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden:


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Die Touristen

Ein Touristen-Pärchen aus Paris hat in einem nord­afrikanischen Land nach dem Arabischen Frühling eine Ferien­wohnung günstig zu mieten bekommen… Aber in dem Haus hat sich schon ein anderes Pärchen breitgemacht…

Personen

Maurice – Delphine – Patrick – Brigitte

© La Comédi@thèque

ERSTER AKT

Terrasse einer Villa irgendwo in Nordafrika. Gartentisch, ein paar Stühle. Zwei Liegestühle. Maurice und Delphine, Pariser ‚Bobos‘, eine Mischung aus Bohème und Schickeria, treten auf, sichtlich erschöpft. Maurice zieht einen Edel-Trolley, Marke ‚Louis Vuitton‘, hinter sich her.

Delphine: Zu früh sind wir nicht da… Von wegen: „20 Minuten vom Flughafen“!

Maurice: Mit dem Hubschrauber, vielleicht.

Delphine: Und dann noch in diesem Viehtransporter, den die hier „Autobus“ nennen… Ich hab‘s Dir ja gesagt, wir hätten ein Taxi nehmen sollen.

Maurice: Aber du musst zugeben, es war ziemlich landestypisch…

Delphine: Was? In einem Abteil mit diesen Nutztieren fahren? Ich rieche bestimmt wie eine Ziege, oder?

Maurice: Ich rieche nichts.

Delphine: Sie hätten uns wenigstens vorwarnen können, dass es ein Omnibus ist… Zwei Stunden Fahrt bis hierher…

Maurice stellt den Koffer ab und bewundert die Landschaft.

Maurice: Hauptsache, wir sind angekommen! Und die Aussicht ist wirklich einzig­artig. Schau mal!

Delphine schaut ihrerseits, fast lächelt sie schon, da verdunkelt sich ihre Miene plötzlich wieder.

Delphine: Und wo ist das Meer? Auf der Webseite stand: Terrasse mit Meerblick!

Maurice schaut angestrengt und wird fündig.

Maurice: Ah, doch, da hinten…

Delphine: Ich sehe nichts… Wo denn?

Maurice: Doch. Da, ganz links. Zwischen den zwei Kamelen.

Delphine: Naja… wenn man sich rausbeugt… und mit einem guten Fernglas…

Maurice (mit einer zärtlichen Geste): Komm schon… Hauptsache, wir sind am Ziel, du und ich, und feiern ab jetzt unsere zweiten Flitterwochen.

Delphine (nicht mehr ganz so missmutig): Du hast Recht. 10 Jahre verheiratet! Nicht zu glauben! Würdest Du’s noch mal machen?

Maurice: Mit geschlossenen Augen!

Delphine: Und mit offenen Augen?

Maurice: Du wirst schon sehen, wir haben‘s hier bestimmt gut getroffen. Auf jeden Fall wird es gemütlicher als in diesem Billig-Flughafen-Terminal von Beauvais….

Delphine: Puh! 11 Stunden Verspätung… In denen sie einem 11 Tage alte Sandwiche in die Hand drücken, mit denen du dir eine Lebensmittelvergiftung einhandelst, noch bevor du an Bord gehst. Alles pure Geldschneiderei – sogar die Papiertüten fürs Kotzen im Flugzeug kosten extra.

Maurice: Du musst es von der guten Seite sehen: wir sind schon mal gegen Montezumas Rache geimpft…

Delphine: Und dann haben wir auch noch unsere ganzen Sachen in einen einzigen Koffer stopfen müssen, um kein Übergepäck zu zahlen.

Maurice: Dafür reist man dann „unbeschwerter“! Ich bin sicher, wir hätten sonst lauter nutzloses Zeug mitgenommen.

Delphine: Nutzlos? Du weißt genau, dass eine Frau im Gepäck nur Unverzichtbares hat, Sachen, ohne die gar nichts geht, vor allem nicht im Urlaub. Du verwechselst das Unverzichtbare mit dem Überflüssigen.

Maurice: Damals die Seychellen, mit Air France und in diesem Hotel vom Club Med… das war schon ein bisschen wie im Film, nicht?

Delphine: Ach, da, wo wir in unseren Flitterwochen waren…

Maurice: Mhm! Die Seychellen, das war noch das echte Abenteuer. Aber heute ist das ja schon abgedroschen…

Delphine: Ich hätte nichts dagegen gehabt, unseren Hochzeitstag konventionell zu feiern.

Maurice: Dafür unterstützen wir jetzt die Befreiungsbewegungen im Maghreb… Hast Du die Wahlplakate an den Hauswänden gesehen? Spürst du den Hauch von Demokratie, der in diesem Land weht?

Delphine: Najaa… Ob wir durch das Buchen einer Ferienwohnung mit Swimming-Pool für die Wiederauferstehung des Tourismus nach der Revolution sorgen – ich weiß nicht so recht. Oder hältst du dich jetzt etwa für Che Guevara?

Maurice: Aber wenn jeder einen solchen Solidaritätsurlaub buchen würde…

Delphine: Die Seychellen, haben die eine Demokratie?

Maurice: Ich weiß nicht, ob das überhaupt ein Land ist.

Delphine: Wem sollen die denn gehören?

Maurice: Irgend so einem Reiseveranstalter?

Sie sehen sich um.

Delphine: Also… was machen wir jetzt? Sollen wir warten, bis jemand kommt?

Maurice: Da ist offen, schau mal.

Delphine: Also, ich hab gedacht, dass der Besitzer da ist und uns begrüßt, so in der Landestracht, im Schneidersitz auf einem Orient-Teppich, mit Pfefferminz-Tee. Wo ist denn die sprichwörtliche arabische Gastfreundschaft hingekommen? Naja. Ich sage dir, so eine Revolution hat nicht nur ihr Gutes. Die traditionellen Sitten und Gebräuche gehen verloren…

Maurice: Wenigstens beweist das, dass es hier sicher ist. Wenn man in Paris die Tür offen stehenlässt… dann ist später nicht mal mehr die Türe da.

Delphine: Gut, lass uns gucken, wie es drinnen aussieht. Ich will nur noch eines: unter die Dusche und mir was Frisches anziehen…

Maurice: Ich auch.

Sie gehen mit ihrem Trolley ins Haus… Kaum sind sie drinnen, kommt ein anderes Ehepaar auf die Terrasse. Prollig angezogen. Er (Patrick) hat ein Short und ein T-Shirt mit einem Werbespruch an. Sie (Brigitte) sieht sexy aus, aber auch etwas vulgär, knapp bekleidet mit einem Pareo, einem Hüfttuch. Sie kommen vom Swimming-Pool. Patrick trägt einen zusammengeklappten Sonnenschirm und ein Kofferradio, Brigitte eine Kühltasche.

Patrick: Bohey, was für eine Affenhitze am Pool, ohne den Sonnenschirm und die Kühltasche wären wir draufgegangen… Wie wär’s mit einem Durstlöscher, Baby?

Brigitte: Ich könnte das ganze Meer austrinken, mitsamt den Fischen…

Sie lassen sich in den Liegestühlen nieder. Brigitte langt nach der Kühltasche, die sie neben sich gestellt hat.

Brigitte: Was darf’s denn sein, Bärchen?

Patrick: Genau… ein Bierchen wär jetzt recht.

Sie gibt ihm ein Dosenbier rüber und nimmt sich ein Cola Light.

Brigitte: Das ist aber das letzte, wir müssen welches nachkaufen.

Patrick: Was? Schon?

Brigitte: Wie viele hast du n getrunken, seit heute früh?

Patrick: Wenn’s schmeckt, dann zählt man nicht…. Glaubst du, dass die hier Bier haben?

Brigitte: Vielleicht alkoholfreies.

Patrick: Bloß nicht !

Brigitte: Das sind doch hier Moslems.

Patrick: Da wären wir besser wieder an die Costa Brava gefahren, oder?

Brigitte: Die Costa Brava? Aber das ist doch jetzt so was für reiche Pinkel geworden.

Patrick: Findest du?

Brigitte: Und bei dem, was dieses Jahr passiert ist, hätten wir doch eh keinen Bock gehabt, da wieder hinzufahren, oder?

Patrick: Und auch nicht die Kohle… Das ist ja jetzt teurer als in Frankreich!

Brigitte: Vor allem, seitdem die auch den Euro haben.

Patrick: Und die Kriminalität bei denen… Wie die uns letztes Jahr die Wagentür aufgebrochen haben… Früher, beim Franco, hat’s so was nicht gegeben.

Brigitte: Eigentlich war ich bisher kein großer Fan von arabischen Ländern. Aber die Preise sind einfach unschlagbar.

Patrick: Und dann sind das ja auch keine echten Araber hier, oder?

Brigitte: Wieso? Was sollen die denn sonst sein?

Patrick: Keine Ahnung… Vielleicht Beduinen?

Brigitte: Beduinen? (sie denkt nach) Aber die Beduinen – sind das keine Araber?

Patrick: Ich glaub eher nicht…

Sie trinken aus ihren Getränkedosen und brüten weiter.

Brigitte: Die Beduinen – sind das nicht die, die in der Wüste leben?

Patrick: Wieso?

Brigitte: Na, weil wir hier nicht in der Wüste sind! Wir sind am Meer.

Patrick: Solche auf Kamelen, meinst du? Aber das sind doch die Tuareg, oder?

Brigitte: Und die Tuareg, sind das etwa auch keine Araber?

Patrick: Was weiß denn ich!

Brigitte: Aber Moslems sind sie schon?

Patrick: Wer?

Brigitte: Mann, die Beduinen!

Patrick: Ja, schon, was denn sonst … Ich meine, wir sind in der Wüste und gleichzeitig am Meer. … Schau, da drüben, ein Kamel! Oder ein „Wüstenschiff“, wie die hier sagen.

Brigitte (gähnt): Ehrlich? Ich bin noch ganz fertig von der Reise.

Patrick: Wir sind doch erst vor einer Stunde angekommen.

Brigitte: Das muss die Zeitverschiebung sein.

Patrick: Ist aber nur eine Stunde Zeitverschiebung zu uns! Und auch nur im Sommer…

Brigitte: Aber wenn man nicht daran gewöhnt ist…

Patrick: Stimmt: es ist Mittag und ich hab noch keinen Kohldampf…

Brigitte: An der Costa Brava hat‘s kein solches Problem mit dem Jetlag gegeben.

Patrick: Also, bevor mir der Magen zu knurren anfängt, blende ich mich mal siestamäßig aus. Was hältst du davon?

Brigitte: Da genieren wir uns einfach nicht! Ist ja schließlich Urlaub, gell!

Sie schlummern ein… Von der anderen Terrassenseite kommen Maurice und Delphine wieder. Sie sehen Patrick und Brigitte in ihren Liegestühlen nicht gleich.

Maurice: Gar nicht so übel, oder?

Delphine: Etwas einfach, aber es geht schon.

Maurice: Wenn du bedenkst, dass diese Leute sich gerade erst von einer Diktatur erholen, die ein halbes Jahrhundert gedauert hat…

Delphine: Wieso ein halbes Jahrhundert? War es davor eine Demokratie?

Maurice: Es war, soweit ich weiß, eine Monarchie.

Delphine: Und wer genau ist dieser Kandidat für die ersten demokratischen Wahlen?

Maurice: Welcher?

Delphine: Gibt es mehrere?

Maurice: Aber ja doch!

Delphine: Ich meine den, den man auf allen Wahlplakaten sieht !

Maurice: Ach, der Spitzenkandidat… Das ist der ehemalige Justizminister.

Delphine: Der Justizminister von dem Diktator, den sie gerade gestürzt haben?

Maurice: Ja, das ist zumindest das, was ich in der Zeitung gelesen habe…

Delphine: Und das ist dir nicht komisch vorgekommen?

Maurice: Was?

Delphine: Dass Diktatoren einen Justizminister haben?

Maurice: Ach, diese armen Teufel haben noch nie so etwas wie eine Demokratie gehabt. Sie werden natürlich einige Zeit brauchen, um sie in ihrem wahren Wert zu erkennen.

Delphine: Tja… Demokratie nach französischem Vorbild ist wie Wein besonderer Herkunft oder feines Parfum, das verlangt schon eine gewisse Kultur…

Maurice: Man muss das Gespür dafür haben.

Delphine: Und eine gute Nase. Bist du sicher, dass ich nicht nach Ziege rieche?

Maurice: Du riechst wie immer…

Delphine: Puh, diese Hitze! … Du hast schon Recht: die Revolution zu unterstützen ohne Klimaanlage, das grenzt an Heldentum.

Maurice: Aber hast du gesehen? Die haben sogar Getränke im Kühlschrank kaltgestellt wo du schon an ihrer Gastfreundlichkeit gezweifelt hast…

Patrick gibt einen Schnarchlaut von sich, wodurch Maurice und Delphine auf das andere Ehepaar aufmerksam werden, das noch immer vor sich hinschlummert.

Delphine: Wer ist denn das?

Maurice: Das müssen die Besitzer sein…

Delphine: Sie sehen aber nicht sehr arabisch aus.

Maurice: Vielleicht sind es Kabylen…

Delphine: Sie haben eher den Look von Debilen.

Maurice: Sprechen Sie Französisch?

Patrick und Brigitte sind von der Unterhaltung der beiden anderen aufgewacht und kommen langsam zu sich. Maurice und Delphine blicken sie mit leichtem Entsetzen an.

Patrick: Wir waren nur ein bisschen abgetaucht… Ist das Ihr Laden?

Delphine: Unser Laden?

Maurice: Er meint, ob wir die Vermieter sind.

Delphine: Ja, danke, ich hab schon mal einen Film mit Jean-Paul Belmondo gesehen. Aber ich habe nicht gedacht, dass die einfachen Leute auch so reden. (Zu Patrick) Was machen Sie hier, guter Mann, wenn Sie nicht der Besitzer sind? Wollen Sie den Rasen mähen?

Patrick: Wir wohnen hier!

Brigitte: Also…urlaubshalber…

Maurice: Was soll das heißen? Diese Villa haben wir gemietet!

Patrick: Wir auch, aber so was von!

Maurice: Ich hab’s… Diese Herrschaften haben die Villa in der Zeit vor uns gemietet… Sie wollen gerade aufbrechen, nicht wahr?

Brigitte: Von wegen! Wir sind ja erst vor einer Stunde angekommen.

Patrick: Und bleiben eine Woche. Und Sie?

Maurice: Wir auch.

Delphine: Das ist ein Alptraum, Maurice, tu was …

Maurice: Da muss ein Missverständnis vorliegen. Der Besitzer kommt bestimmt gleich und wird alles aufklären. Haben Sie ihn schon gesehen, den Besitzer?

Patrick: Nee, und Sie?

Maurice: Nein, noch nicht.

Brigitte: Wir sind vor einer Stunde mit einem Taxi hergekommen.

Delphine: Da siehst du‘s! Wenn wir ein Taxi genommen hätten, wären wir als erste da gewesen…

Patrick: Es war alles offen, da sind wir reingegangen.

Brigitte: Wir haben noch nicht mal unsere Koffer aufgemacht.

Delphine: Umso besser, dann können Sie ja gleich wieder abreisen!

Patrick: Wir haben gerade mal Zeit für einen Sprung in den Pool gehabt, ohne Klamotten, sozusagen textilfrei.

Brigitte: Wir haben nicht gedacht, dass wir Gesellschaft bekommen…

Delphine (über Patrick): Sein Gesicht kommt mir irgendwie bekannt vor…

Maurice (verlegen): Mir auch… Wahrscheinlich haben wir sie im Flugzeug gesehen

Delphine: Vielleicht sind das Hausbesetzer…

Maurice: Also, ich ruf jetzt den Hausbesitzer an. (Maurice zieht sein Smartphone aus der Hülle, die anderen schauen ihm gespannt zu.)

Maurice: Kein Netz.

Patrick: Arabische Telefongesellschaft.

Brigitte: Der wird bestimmt noch aufkreuzen.

Patrick: Kein Schwein da, soviel steht fest.

Brigitte: Na, das Haus ist groß genug! (Zu Patrick) Und du hast noch gemeint, dass du dich langweilen wirst…

Patrick: Normalerweise machen wir immer mit Freunden Urlaub, aber dieses Mal stehen sie nicht mehr zur Verfügung…

Brigitte: Die haben vor 2 Monaten einen Verkehrsunfall gehabt und sind jetzt beide tot…

Patrick: Das hat ganz schön reingehauen, können Sie sich ja denken.

Brigitte: Wo wir seit Ewigkeiten mit denen zusammen Urlaub gemacht haben.

Patrick: Die haben so ein kleines Apartment an der Costa Brava gehabt.

Brigitte: Und haben uns jedes Jahr im August zu sich eingeladen.

Patrick: Dieses Mal haben wir uns zwangsläufig was Anderes gesucht.

Brigitte: Gar nicht so einfach, für August, können Sie sich ja vorstellen…

Patrick: Da sind wir auf Nordafrika ausgewichen.

Brigitte: Das war nämlich so ein Einführungsangebot…

Patrick: Ist ja auch fast genauso wie die Costa Bra­va, gell?

Brigitte: Statt Paella gibt’s jetzt halt Couscous zum Essen, voilà.

Patrick: Und in Gesellschaft, warum auch nicht, gell, Brigitte?

Delphine (zu Maurice): Du hast das doch hoffentlich nicht alles arrangiert, das Zusammentreffen mit diesen Proleten, so einen flotten Vierer zu unserem Hochzeitstag, so als kleiner Kick? Du weißt genau, dass ich Überraschungen nicht besonders mag…

Patrick: Dann genehmigen wir uns erst mal einen kleinen Aperitif, wie wär’s damit? Baby, bringst du uns ein paar Oliven?

Brigitte geht in die Villa.

Patrick: Bier ist keines mehr da. Wie wär’s mit einem Magenwärmer?

Delphine: Mit was?

Maurice: Er meint so was wie einen Pastis.

Patrick: In diesem Schuppen kommt ein kleiner Pastis gerade recht… Ich hab Pfefferminzsirup. Einen Papagei für die junge Dame?

Delphine (leise zu Maurice): Ich verstehe nicht, was er meint.

Patrick schenkt ein. Brigitte kommt mit den Oliven zurück. Patrick hebt sein Glas.

Patrick: Zum Wohlsein!

Brigitte: Hier, Oliven, greifen Sie zu.

Patrick: Waren Sie schon mal in der Gegend?

Delphine: Wie kommen die dazu, die Villa zweimal zu vermieten?

Maurice: Keine Ahnung.

Delphine: Haben Sie den Mietvertrag?

Patrick: Klar doch, da ist er… (Er hält Delphine den Mietvertrag hin.) Monsieur und MadameMartin… da steht’s…

Delphine: Monsieur und Madame Martin!

Patrick: Aber Sie können einfach Patrick zu mir sagen…

Brigitte: Und ich bin die Brigitte.

Maurice: Wir haben denselben Zunamen.

Patrick: Heißen Sie auch Patrick?

Delphine: Wir heißen auch Martin. Das nennt man eine Homonymie.

Brigitte: Ehrlich?

Patrick: Das ist ja krass.

Brigitte: Kein Wunder, es gibt doch so eine Redensart: dass nicht nur Esel auf den Namen Martin hören!

Patrick: Das hat schon mein Lehrer immer zu mir gesagt. Wir waren zwei mit demselben Namen in der Klasse. Der andere, das war so ein übler Streber! Hat sich immer wie der Klassenbeste aufgeführt. Waren Sie das etwa? Sie sehen ihm nämlich ganz schön ähnlich.

Maurice: Wie kommen Sie denn da drauf?

Patrick: Gell, Baby, ein bisschen sieht er dem Momo ähnlich? Du hast ihn doch auch gekannt, den Momo?

Brigitte: Nö…

Patrick: Ach, natürlich hast du den gekannt! Wir waren zusammen in der Schule! In der GagarinHauptschule. Gagarin! Der Lehrer hat immer zu mir gesagt: Wenn man später mal die Idioten in eine Umlaufbahn schießt, dann dich für immer.

Delphine: Das ist wirklich wie in einem Belmondo-Film.

Brigitte: Sie haben Recht, das muss von dieser Homophobie herkommen.

Delphine: Verzeihung?

Brigitte (zu Maurice): Die müssen geglaubt haben, dass mein Mann und Sie ein und dasselbe Ehepaar sind…

Patrick: Klar doch. Wir haben denselben Namen… Pfff, womöglich sind wir noch Cousins.

Brigitte: Na, das Haus ist ja groß genug. Wenn wir schon fast eine Familie sind warum verbringen wir den Urlaub dann nicht zusammen?

Delphine: Zusammen?

Patrick: Wir teilen uns die Miete!

Brigitte: Und fürs Essen machen wir gemeinsame Kasse.

Patrick: Wie mit unseren Freunden.

Maurice: Ihren Freunden?

Brigitte: Die, die jetzt tot unter der Erde sind.

Patrick: Was halten Sie davon?

Brigitte: Es ist ja eh schon günstig…, wenn wir’s dann noch durch zwei teilen…

Patrick: Dann ist es hier billiger, als wenn wir zu Hause geblieben wären und Fernsehen geschaut hätten, das steht fest.

Brigitte: Wenn‘s im Fernsehen wenigstens was Vernünftiges gäbe!

Delphine (zu Maurice): Na, prächtig… Du wolltest ja auch sparen… Jetzt sag schon was…

Maurice: Im Moment gibt es sowieso keine andere Lösung…

Delphine: Besten Dank, ich habe mir schon gedacht, dass das jetzt kommt. Aber hier in der Umgebung muss es doch Hotels geben, oder?

Patrick: Uuh… Das ist hier eher tote Hose… Was man so vom Taxi aus gesehen hat. Das ist hier Pampa. Oder genauer gesagt: Wüste.

Brigitte: Außer ein paar Zelten von Beduinen.

Patrick: Und die gnädige Frau, wie heißt die?

Maurice: Martin – das habe ich Ihnen doch schon gesagt! Das ist meine Frau. Wir heißen beide Martin.

Delphine (leise, zu Maurice): Die sind so was von zurückgeblieben, das gibt’s doch nicht…

Patrick: Nee, den Vornamen meine ich! Nicht den Mädchennamen.

Delphine: Delphine. Ich heiße Delphine.

Patrick: Alles klar… Und er ist der Maurice. Echt krass. Der Momo Martin! Mein Kumpel von der Schule! Aber der hat doch nicht Maurice geheißen, oder?

Brigitte: Wer möchte noch einen Aperitif?

Maurice: Danke, ich hab genug…

Patrick: Und was machst du so, Momo?

Maurice: Ähm… ich bin Journalist…

Patrick: Für France Soir oder so ein Käsblatt?

Maurice: Golf Magazin International.

Patrick: Aha, ein großer Reporter… (zu Delphine) Und die Dame?

Delphine: Ich bin Malerin.

Brigitte: Malerin? Das ist ja kein sehr üblicher Beruf für Frauen.

Patrick (zu Brigitte): Du wolltest doch deine Küche neu streichen lassen, kannst sie gleich mal nach einem Kostenvoranschlag fragen.

Delphine: Ähm… nein, ich… male keine Küchen…

Brigitte: Ach so? Was malen Sie denn dann?

Delphine: Ich mache hauptsächlich Bilder von Kühen.

Brigitte: Von Kühen?

Delphine: Ab und zu auch von Kälbern.

Maurice: Meine Frau ist Kunstmalerin.

Delphine: Tiermalerin.

Patrick: Ach so… Und Sie haben sich auf Rind spezialisiert?

Brigitte: Da haben Sie aber Pech, hier gibt es nur… Kamele.

Delphine: Wir sind im Urlaub…

Brigitte: Ist ja lustig. Eine Kunstmalerin habe ich noch nie kennengelernt. Und Sie könnten auch ein Porträt von mir malen?

Patrick: Die Dame hat dir doch gesagt, dass sie nur Kühe malt…

Delphine: Und Sie Patrick?

Patrick: Ich hab im Gefrierkost-Sektor zu tun.

Delphine: Ach, daher das T-Shirt…

Maurice: Und Sie, Brigitte, was machen Sie beruflich?

Brigitte: Ich? Ach, zurzeit arbeite ich in einem Massage-Salon.

Maurice (interessiert): In einem Massage-Salon…?

Patrick: Süße… ich hab dir doch gesagt, das heißt ‚Physiotherapeutin‘…

Brigitte: Massage-Salon ist aber einfacher.

Patrick: Meine Frau ist Sprechstundenhilfe …

Brigitte: Ich wette, wir haben einen Haufen Dinge gemeinsam.

Delphine: Sie meinen, außer unserem Namen?

Patrick: Du, Baby, setzt du schon mal die Suppe auf? Ich schiebe einen Kohldampf, kann ich dir sagen…

Brigitte: Bleiben Sie zum Essen?

Patrick: Ich weiß nicht, ob …

Delphine: Lassen Sie nur. Wir wollen doch keine Gewohnheiten einreißen lassen.

Brigitte: Ich übernehme als erste das Geschirr

Delphine: Nein, das ist wirklich nett von Ihnen, aber wir werden hier schon ein kleines Restaurant in der Nähe finden…

Maurice: Wir haben nämlich heute unseren Hochzeitstag.

Patrick: Ja, dann…! Wir werden Ihnen kein Schlaflied singen, gell, Brigitte.

Sie gehen ab.

Delphine: Musstest du ihnen unbedingt sagen, dass heute unser Hochzeitstag ist?

Maurice: Mir ist nichts Anderes eingefallen, wie wir Ihrer Einladung aus dem Weg gehen können.

Delphine: Ehrlich… wir wären besser auf die Seychellen geflogen und hätten die nächste Revolution angezettelt…

Maurice versucht noch einmal zu telefonieren.

Maurice: Immer noch kein Netz…

Delphine: Sag mir, dass das alles nur ein Albtraum ist und dass ich gleich aufwache…

Maurice: Nimm‘s von der guten Seite…

Delphine: Welche gute Seite?

Maurice: Wir hätten doch sonst nie den Abend mit Leuten aus Clichy-sous-Bois verbracht…

Delphine: Wir wollten die Einheimischen von hier kennenlernen, nicht Leute aus der Pariser Banlieue… Woher weißt du eigentlich, dass sie aus Clichy-sous-Bois kommen?

Maurice: Weiß ich nicht, sag ich nur so.

Delphine: Na dann… Was machen wir jetzt?

Maurice: Außer warten…

Delphine: Nein, auf keinen Fall werde ich in dieser Bleibe auch nur eine Nacht mit diesen beiden Schwachköpfen verbringen! Weißt du, was dein Problem ist, Maurice? Du bist so was von energielos, so ein Weichei!

Maurice: Hast du eine bessere Lösung?

Delphine: Ach, was weiß ich! Schau mal im Koffer nach, ob wir die Telefonnummer von dem Reisebüro in Paris haben!

Er bringt den Koffer und versucht, ihn mit einem Schlüssel zu öffnen.

Maurice: Ich krieg ihn nicht auf.

Delphine: Zeig mal…

Sie versucht es auch, aber vergeblich.

Maurice: Hmm… Ist das überhaupt der richtige Schlüssel?

Delphine (entsetzt): Es ist der richtige Schlüssel… aber der falsche Koffer.

Maurice: Was? Aber das ist doch unser Koffer von Vuitton.

Delphine: Der hier ist aber ein echter Vuitton.

Maurice: Wieso? War unserer kein echter?

Delphine: Wir müssen uns vertan haben, als wir den Koffer vom Förderband genommen haben.

Maurice: Vertan? Wie sollen wir uns denn vertan haben?

Delphine: Du hast doch den Koffer vom Band genommen, weil er für mich zu schwer war. Hast du nicht gesehen, dass das hier ein echter Vuitton ist?

Maurice: Ich hab nicht gewusst, dass unserer kein echter ist!

Delphine: Wir haben nichts mehr!

Maurice: Gar nichts?

Delphine: Nichts als die schmutzigen Klamotten, die wir anhaben…!

Maurice: Sei froh, wir haben noch die Pässe, die Kreditkarten und die Reiseschecks…(Sie wirft ihm einen bedeutungsschweren Blick zu.)… Neiiin. Sag bloß…

Delphine: Ich habe die Hülle mit unseren Reiseunterlagen gleich nach der Zollkontrolle in das Außenfach vom Koffer gesteckt…

Maurice: Das ist nicht dein Ernst?

Delphine: Du hast mir doch davon vorgeschwärmt, wie sicher es in diesem Land ist und von allen diesen Vorteilen der 50-jährigen Diktatur… dass man sogar die Haustür offen stehen lassen kann…

Maurice: Ja und?

Delphine: Unsere Reisedokumente sind nicht im Außenfach von diesem Koffer hier!

Maurice: Dann war es also so, dass ich den richtigen Koffer vom Halsband runtergenommen habe…

Delphine: Vom Halsband? Was redest du da?

Maurice: Und das mit der Verwechslung war später, in der Eingangshalle vom Flughafen. Als ich dich mit dem Gepäck alleine gelassen habe und zum Taxistand gegangen bin…

Delphine: Bin jetzt etwa ich schuld?!

Maurice: Jetzt rück raus mit der Wahrheit, Delphine. Hast du den Koffer unbeaufsichtigt gelassen, auch wenn’s nur für einen Augenblick war?

Delphine: Neiiiiin… Bis auf… ich bin nur einen Moment auf die Toilette gegangen… es war ganz dringend… und mit dem Koffer bin ich nicht in die Toilette reingekommen…

Maurice: Okeee…

Patrick und Brigitte kommen mit zwei Konservendosen und Tellern zurück und wollen den Tisch decken.

Patrick: Was ist los, ihr schaut so gequält?

Maurice: Das ist ein fremder Koffer.

Delphine: Den unseren hat man uns geklaut.

Brigitte: Komisch! Uns hat man gesagt, dass es hier sehr sicher ist.

Delphine: Mit unseren ganzen Reiseschecks…

Brigitte: Mit Reiseschecks…?

Patrick: Gibt’s sowas überhaupt noch?

Delphine: Wir haben keinen Cent mehr…

Maurice: Wir haben nicht mal was zu essen…

Brigitte: Na, dann haben Sie ja jetzt keine andere Wahl!

Delphine: Keine Wahl?

Patrick: Wir laden Sie ein! Schatzi, holst du noch 2 Portionen Körner und deckst für die beiden mit?

Delphine: Was ist das?

Patrick: Couscous.

Maurice: Aus der Dose?

Brigitte kommt mit zwei Tellern und zwei Konservendosen für die anderen zurück.

Brigitte: Wir sollen uns hier von frisch zubereitetem Essen fernhalten, hat man uns gesagt.

Patrick: Wegen Montezumas Rache, Sie verstehen schon…

Brigitte: Unser Doc hat uns ausdrücklich Konserven empfohlen…

Maurice: Dosen-Couscous… na toll…

Patrick: Ja, aus der Dose, aber aus regionaler Produktion…

Delphine: Ach, hier gibt’s Couscous aus der Dose? Das ist ja wirklich revolutionär…

Brigitte: Ob’s das hier gibt, weiß ich nicht… Wir haben’s bei Auchan entdeckt, bei uns in Clichy-sous-Bois…

Delphine: Du hast Recht, die sind tatsächlich aus Clichy-sous-Bois.

Patrick: Und aufgepasst… Das ist fair gehandeltes Couscous!

Maurice und Delphine gucken verständnislos.

Brigitte: Abgefüllt von Frauen in einer Konservenfabrik, wo die Menschenrechte eingehalten werden.

Delphine: Auch eine Art, den Arabischen Frühling zu unterstützen…

Patrick (zu Maurice): Ist wirklich krass, deine Aufmachung erinnert mich total an jemanden …

Delphine: Nebenbei, wir haben nichts mehr zum Anziehen.

Patrick: Nicht mal einen Badeanzug für den Pool.

Brigitte: Ich leih Ihnen einen, wenn Sie wollen. Obwohl… ich weiß gar nicht, ob ich einen zweiten dabei habe… Wegen dem Übergepäck… Wir haben ja schon alle Lebensmittel für eine Woche dabei…

Delphine: Dann eben ein Badeanzug für zwei… Wir baden abwechselnd… (Zu Maurice) Oder eben alle textilfrei, mit unseren neuen Freun­den… was meinst du, liebster Maurice?

Brigitte: Soll ich Ihnen ein Kleid leihen?

Delphine: Ich glaub, wir haben nicht ganz die gleiche Größe. … Aber wir versuchen jetzt mal, diesen Koffer aufzubekommen. Vielleicht ist da etwas zum Anziehen…

Brigitte: Na, dann warten wir noch etwas mit dem Couscous.

Licht aus.

ZWEITER AKT

Maurice und Delphine kommen zurück, orientalisch angezogen: er mit Tunika im orientalischen Stil – einer „Dschellaba“ – und Schnabelschuhen, sie mit einem Bauchtanz-Kostüm. Patrick und Brigitte sind natürlich überrascht.

Brigitte: Wer hat was von einem Kostümfest heute Abend gesagt?

Patrick: Im Club Med waren es immer die Animateure, die die Kostüme besorgt haben. Für hier haben wir gar nichts mitgenommen…

Delphine: Wir haben den Koffer nicht auf bekommen, aber das hier haben wir in einem Schrank gefunden…

Patrick: Und Sie sagen, dass Sie keinen Reisepass mehr haben? So kostümiert kommen Sie in Paris sowieso nicht an der Flughafen-Polizei vorbei. Oder höchstens als Boat-People!

Brigitte: Stimmt, aber es steht Ihnen super gut!

Patrick: Und wie wär’s, wenn du nach dem Essen einen kleinen Bauchtanz für uns machst, Delphine?

Delphine (etwas steif): Duzen wir uns jetzt etwa?

Brigitte: Ich serviere dann mal.

Brigitte serviert, indem sie auf jeden Teller eine Dose Couscous stellt.

Delphine: Wenigstens sind die Portionen fair verteilt…

Maurice: Sieht gar nicht so übel aus.

Brigitte: Appetit ist die beste Würze, hat meine Mama immer gesagt.

Sie essen.

Patrick: Einen Schluck Traubenmost?

Delphine versteht nicht gleich.

Maurice: Monsieur fragt, ob du Wein möchtest.

Delphine: Du wärst besser Dolmetscher in der Pariser Banlieue geworden, statt Journalist beim Golfmagazin…

Patrick: Sag mal Momo, du kommst sicher ne Menge rum, bei deinem Job?

Maurice: Na ja, wissen Sie, die Golfplätze sehen alle gleich aus. Unterschiede gibt’s nur bei der Zahl der Löcher…

Brigitte: Echt?… Und was hat Sie auf die Idee gebracht, Journalist bei diesem Golfmagazin zu werden?

Patrick: Bist wohl n Golf-Narr?

Maurice: Der Vater von meiner Frau ist der Chef von dieser Zeitschrift.

Patrick: Ah, verstehe …

Delphine: Interessieren Sie sich für Golf?

Brigitte: Patrick ist eher der Fußballtyp! Oder, Patou?

Delphine: Tiermalerei ist wohl auch nicht Ihre große Leidenschaft… (beiseite, zu Maurice) Die Unterhaltung wird zäh, wenn nicht bald das Lokum zum Nachtisch kommt ….

Patrick schenkt nach.

Brigitte: Unglaublich, diese Koffergeschichte…

Patrick: Andererseits, wenn man meinen Koffer gegen einen anderen vertauscht hätte – ich glaub, ich hätte nicht schlecht abgeschnitten.

Brigitte: Und was ist in dem Koffer, den Sie jetzt haben?

Maurice: Ich habe Ihnen ja gesagt: wir haben ihn nicht aufbekommen.

Patrick: Das schauen wir uns später zusammen an.

Brigitte: (heiter) Es gibt kein Schloss, das Patrick nicht aufkriegt. Oder, Patou?

Patrick: Sie lacht, weil wir uns auf einer Single-Party kennengelernt haben.

Brigitte: Jedes Mädel hatte ein Schloss, na, Sie wissen schon, was ich meine…

Patrick: Und jeder Typ hatte einen Schlüssel und musste das passende Schloss dazu finden.

Brigitte: Patrick hatte nicht den richtigen Schlüssel, aber er hat mein Schloss doch aufgekriegt. Er bastelt gern, wissen Sie.

Maurice ist ein bisschen verlegen. Delphine hängt ihren eigenen Gedanken nach.

Delphine: Es ist eigentlich unanständig, die Koffer von jemand Unbekanntem zu durchwühlen.

Brigitte: Also, ich glaube, der Nachtisch wäre so weit.

Brigitte steht auf.

Brigitte: Nein, nein, bleiben Sie ruhig sitzen… Schatz, kannst du mir beim Abräumen helfen?

Patrick und Brigitte gehen raus.

Delphine: Und wenn die es waren?

Maurice: Was?

Delphine: Der Koffer! Vielleicht haben die uns den Koffer geklaut!

Maurice: Aber es ist doch eh nichts Wertvolles in unserem Koffer! Und ein echter Vuitton ist es auch nicht! Warum sollen die denn den Koffer vertauscht haben?

Delphine: Was weiß denn ich… zum Spaß oder so!

Maurice: Hältst du diese Leute für fähig zu so einem raffinierten Coup?

Delphine: Ich gehe später mal diskret nachsehen, ob das unser Koffer in ihrem Zimmer ist.

Maurice: Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist…?

Patrick und Brigitte kommen zurück und begegnen Delphine, die rausgeht.

Brigitte: Wo gehen Sie denn hin? Es gibt Lokum zum Nachtisch!

Delphine: Ich geh… mich nur schnell frisch machen.

Patrick: (gut aufgelegt) Also, salam Ali komm, lieber Bruder Momo! Es heißt immer, dass die Araber Schwierigkeiten haben, sich bei uns anzupassen, aber du, du bist ja ein Integrations-Champion – Respekt! Du musst nur noch die Landessprache lernen…

Maurice bemüht sich um einen klugen Gesichtsausdruck.

Brigitte: Hör doch auf, ihn anzumachen.

Patrick: Ich darf doch mal ein bisschen Spaß haben, oder? Wir sind im Urlaub! Und es ist echt krass… Er sieht dem Momo ähnlich wie ein Ei dem anderen.

Brigitte: Welchem Momo?

Patrick: Meinem Kumpel aus der Gagarin-Schule! Mohamed!

Brigitte: Mohamed Martin?

Patrick: Der hatte doch eine arabische Mutter und sein Vater war Franzose. Von seinem Alten hat er den Nachnamen, aber den Vornamen hat die Mama ausgesucht.

Brigitte: Tja, so ist das mit Multikulti – ist nicht immer leicht, damit umzugehen.

Patrick: Mohammed Martin! Wir haben ihn Ali Baba genannt, weil seine Mutter ihn in Araber-Klamotten, in so einer Dschellaba, zur Schule geschickt hat. Alle haben ihn deswegen aufgezogen… Wenn ihm die Nerven durchgegangen sind, hat er immer angefangen zu stottern. – Bist du sicher, dass du nie in Clichy-sous-Bois gewohnt hast?

Maurice (stottert): Nee, nee… ich… ich… ich glaub nicht…

Patrick: Momo?

Maurice: Das heißt… meine Frau weiß nichts davon… Sie und ich haben uns an der Uni kennengelernt, ich habe nach dem Abitur ein Begabtenstipendium bekommen…

Patrick: Und jetzt nennst du dich Maurice?

Maurice: Ich habe meinen Vornamen ändern lassen… Aber mir wäre lieber, wenn das unter uns bleibt, einverstanden?

Patrick: Ok…

Delphine kommt zurück.

Delphine: Das hätten wir…

Brigitte: Schatz, räumst du den Tisch ab? Ich mach uns etwas Pfefferminztee.

Maurice: Und?

Delphine: Das sind nicht unsere Sachen in ihrem Zimmer… Sie haben zwei Koffer. Im einen sind ihre Anziehsachen und der andere ist voll mit Couscous-Dosen…

Maurice: Hat übrigens gar nicht so übel geschmeckt, für Dosen-Couscous.

Delphine: Das ist schon irgendwie abartig.

Maurice: Was?

Delphine: Ein Koffer voll mit Couscous-Dosen… Vielleicht sind sie Schwarzhändler?

Maurice: Und dealen mit Dosen-Couscous?

Delphine: Und wenn da etwas anderes drin wäre…

Maurice: Nämlich?

Delphine: Was weiß ich… Drogen…

Maurice: Wer ist denn so bescheuert, Drogen nach Nordafrika zu schmuggeln und noch dazu in Dosen von fair gehandeltem Couscous…?

Sie wenden den Blick gleichzeitig zu Patrick und Brigitte, die eben zurückgekommen sind.

Patrick: So, das Geschirr ist abgespült!

Delphine: Tja, der Vorteil von Konservenbüchsen ist, dass es mit dem Geschirrspülen schneller geht.

Brigitte: Nächstes Mal seid ihr dran!

Patrick: Aber euer Kofferproblem ist damit noch nicht gelöst.

Maurice: Im Moment weiß ich auch nicht weiter.

Delphine: Der, der unseren Koffer hat, wird bestimmt Kontakt mit uns aufnehmen, wenn er merkt, dass die Koffer vertauscht sind…

Patrick: Steht Ihre Adresse auf dem Koffer?

Maurice: Unsere Adresse in Frankreich, ja.

Brigitte: Das bringt Sie auch nicht weiter, wenn der Typ Ihren Koffer nach Frankreich schickt…

Patrick: Und auf dem Koffer, den Sie jetzt haben – steht da eine Adresse? Eine Telefonnummer?

Maurice holt den Koffer.

Maurice: Nein…

Delphine: Vielleicht innen?

Maurice: Aber uns fehlt doch der Schlüssel zum Aufmachen.

Patrick: Kein Problem für uns, Ali Baba! (Er macht sich mit einer Gabel am Koffer zu schaffen.) Sesam, öffne dich! Uuuund hopp!

Der Koffer geht auf. Allgemeine Verblüffung.

Maurice: Das gibt’s doch nicht!

Patrick: Sieht ganz aus wie Geldscheine…

Brigitte: Sie mit Ihrer Angst, dass Sie nicht genug Geld für Ihren Aufenthalt haben!

Delphine: Euro sind es auf jeden Fall keine.

Patrick: Komische Buchstaben.

Delphine: So was wie Kyrillisch.

Patrick: Wie was?

Maurice: Das müssen Rubel sein…

Delphine: Oh, mein Gott…

Brigitte: Wer fährt denn in den Maghreb in Urlaub mit einem Koffer voll Rubel?

Delphine: Die Russen-Mafia.

Maurice: Das muss Schwarzgeld sein.

Patrick: Deswegen die vertauschten Koffer.

Delphine: Was?

Patrick: Das habe ich mal in einem Film gesehen. Die haben die Touristen benutzt wie Maultiere.

Delphine: Wie Maultiere?

Brigitte: Nicht nur Esel hören auf den Namen Martin!

Patrick: Damit sie durch den Zoll kommen.

Maurice: Glauben Sie?

Delphine: Aber was sollen wir denn jetzt tun? Oh, mein Gott! Wir müssen dieses Geld unbedingt loswerden!

Patrick: Tja, aber der Haken ist, dass diese Herrschaften bestimmt ihre Kohle zurückhaben wollen, egal wie… Und die haben im Allgemeinen keinen Sinn für Humor…

Delphine macht den Koffer hastig zu.

Delphine: Sie haben Recht. Wir tun besser so, als hätten wir den Koffer gar nicht aufgemacht und als ob wir von nichts eine Ahnung haben.

Maurice: Und wenn der Typ, der uns das Haus vermietet hat, mit denen unter einer Decke steckt?

Patrick: Stimmt, ist allmählich ganz schön schräg, dass wir den noch nicht zu Gesicht bekommen haben, den Besitzer.

Delphine: Der gehört vielleicht zur Al Qaida oder zum Islamischen Maghreb…

Patrick: Und was fängt er dann mit einem Koffer voll Rubel an?

Delphine: Die werden vielleicht von den Tschetschenen finanziert? Die Tschetschenen sind doch auch Moslems…

Brigitte: Oh, mein Gott! Wenn wir gewusst hätten, dass hier Tschetschenen sind, wären wir nie hier hergekommen… Dabei hast du mir gesagt, dass hier nur Beduinen sind!

Patrick: Immer mit der Ruhe, Spatz, vielleicht ist es ja auch ganz anders. (Zu Delphine) Sie glauben doch hoffentlich nicht, dass die heute Nacht kommen und uns allen die Kehle durchschneiden, wie Schafen?

Brigitte (unter Tränen): Dabei sind wir hier hergekommen, um ganz in Ruhe einen kleinen Urlaub zu verbringen… Du hast ganz Recht gehabt, Patou, wir wären besser wieder an die Costa Brava gefahren!

Schweigen.

Delphine (zu Maurice): Und wer sagt uns, dass nicht die‘s sind?

Brigitte: Wir?

Delphine: Wir kommen hierher und die sind schon da. Und rein zufällig haben sie denselben Namen! Und dabei kennen wir sie gar nicht. Vielleicht haben die ja den Auftrag gehabt, den Koffer zu übernehmen! Und vielleicht schneiden sie uns heute Nacht die Kehle durch.

Maurice: Na, das sind doch immerhin Landsleute von uns…

Delphine: Unsere Landsleute? Sie wohnen in der Banlieue! Wo die ganzen Moscheen sind!

Maurice: Bist du schon mal dort gewesen?

Delphine: Das sagen doch alle.

Patrick: Hey, junge Frau, jetzt aber mal halblang!

Brigitte: Wir laden die ein, mit uns Couscous zu essen, und jetzt behandeln die uns wie Islamisten…

Patrick: Ihr habt uns in diese Scheiße geritten!

Brigitte: Wir haben doch nichts von denen gewollt!

Patrick: Ihr kreuzt hier bei uns auf, einfach so, mit eurem vornehmen Getue.

Brigitte: Und plötzlich ist hier Golfkrieg!

Delphine: Bei Ihnen? Aber das ist hier bei uns! Oder, Maurice? Sag du endlich auch was!

Maurice: Ja, doch. Nur nicht die Nerven verlieren, das ist jetzt nicht der richtige Moment. Wir müssen solidarisch bleiben.

Patrick: Also, ich sag mal so: seht zu, wie ihr aus der Scheiße rauskommt! Der Koffer – den haben sie doch euch untergeschoben. Wir haben damit nichts zu tun… So, und jetzt werde ich meinen Astralkörper zur Ruhe betten. Kommst du mit, Spatz? Die sind vielleicht drauf…!

Patrick und Brigitte gehen raus. Maurice und Delphine bleiben einigermaßen hilflos zurück.

Delphine: Ich glaube, es ist besser, wenn wir nachts abwechselnd Wache halten.

Licht aus

DRITTER AKT

Maurice und Delphine, die ganz offensichtlich die Nacht auf der Terrasse verbracht haben, wachen vom Ruf des Muezzins auf.

Delphine: Sind wir noch am Leben?

Maurice: Ich glaub schon.

Delphine: Und der Koffer ist noch immer da?

Maurice: Ja…

Erneuter Ruf des Muezzins.

Delphine: Was ist denn los?

Maurice: Der Gebetsruf …

Sie denken nach.

Delphine: Und wenn es ein Geschenk des Himmels wäre…

Maurice: Ein Geschenk des Himmels?

Delphine: Wenn ein Jahr und einen Tag niemand auf das Geld Anspruch erhebt, dann…

Maurice: Meinst du wirklich?

Delphine: Wir brauchen dann nur zu sagen, dass wir im Lotto gewonnen haben…

Sie denken nach.

Maurice: Wie steht denn der Rubel?

Delphine: Ich weiß nicht, aber wenn man einen Koffer voll davon hat… das dürfte für die nahe Zukunft reichen…

Maurice: Aber irgendwie muss man diese ganzen Rubel nach Frankreich zurückschaffen…

Delphine: Wir könnten die leeren Couscous-Dosen benützen…

Maurice nimmt eine übriggebliebene leere Couscous-Dose und untersucht sie.

Maurice: Das Verfallsdatum ist überschritten… Das war wohl ein Sonderangebot. Deswegen haben sie gleich alles aufgekauft.

Delphine: Das passiert einem nicht alle Tage, so eine Geschichte.

Maurice: Nein…

Delphine: Und wenn das alles ein genau ausgeklügelter Plan ist?

Maurice: Ein ausgeklügelter Plan?

Delphine: So was wie ‚Versteckte Kamera‘, du weißt schon. Die Art von Sendung, wo man Prominente in eine ganz unglaubliche Falle tappen lässt.

Maurice: Wir sind aber keine Prominenten.

Delphine: Wir müssen nachsehen, ob hier nicht irgendwo eine Kamera ist (sie fängt an zu suchen). Oder Leute, die sich irgendwo verstecken und sich über uns totlachen. (Sie späht in das Dunkel des Zuschauersaals, kann aber nichts entdecken.)

Maurice: Das würde bedeuten, dass Patrick und Brigitte Schauspieler sind…

Delphine: Warum auch nicht?

Maurice: Glaub mir, ich habe da so meine berechtigten Zweifel…

Die anderen beiden kommen herein, er im Schlafanzug, sie in einem Bademantel.

Delphine: Du hast Recht… Auch die besten Schauspieler könnten keine so glaubwürdige Proll-Nummer abliefern…

Brigitte: Gut geschlafen?

Delphine: Nicht wirklich.

Brigitte will Patrick offensichtlich dazu bringen, etwas zu sagen.

Patrick: Ja… Also… T’schuldigung wegen gestern Abend, nich, da ist mir ne Sicherung durchgebrannt.

Brigitte: Mein Mann geht manchmal auf wie ein Hefekuchen…

Maurice: Schon gut, ist nicht schlimm, ehrlich…

Delphine: Ich glaub, ich geh mich mal ein wenig frisch machen…

Maurice: Ich auch.

Brigitte: Ich hab Kaffee gemacht. Sollen wir auf Sie warten, mit dem Frühstück?

Maurice und Delphine lächeln eine Spur und gehen ab.

Patrick: Sie lassen einfach ihren Koffer stehen…

Brigitte: Ganz schön unvorsichtig…

Es vergeht eine Weile.

Patrick: Wär schon schade, wenn nur die von diesem Sechser mit Zusatzzahl profitieren…

Brigitte: Allerdings.

Patrick: Wir haben doch auch ein Recht auf unseren Anteil?

Brigitte: Und wir könnten es auch wirklich besser gebrauchen als die…

Patrick: Es ist eben wie beim Lotto… Gewinnen tun immer die, die es gar nicht so nötig haben.

Brigitte: Die Alten, die Reichen…

Patrick: Oder die, die zu arm dran sind und nicht wissen, wie man damit umgeht…

Brigitte: Die alles ausgeben und dann noch ärmer sind als vorher.

Patrick: Ich wüsste schon, was ich damit anfange, mit der ganzen Kohle, das kannst du mir glauben…

Brigitte: Ja, aber der Koffer ist eben denen ihrer.

Patrick: Denen ihrer? Und wenn die uns als Maultiere benutzt haben…

Brigitte: Du hast Recht. Es sind ja nicht nur Esel, die auf den Namen Martin hören!

Patrick: Es muss doch irgendwie möglich sein…

Brigitte: Was?

Maurice und Delphine erscheinen wieder.

Brigitte: Wollt ihr einen Kaffee?

Maurice: Wir haben noch einmal überlegt, dass wir besser vorsichtig sind und das Ganze der Polizei melden. Die kümmern sich dann um alles.

Patrick: Also… ich an eurer Stelle würde das nicht machen…

Delphine: Wieso?

Patrick: In Ländern wie diesem hier ist das mit der Polizei so eine Sache…

Delphine: Das ist wahr, vor ein paar Wochen hat die Polizei hier in der Gegend die Regimegegner noch gefoltert…

Patrick: Ihr könnt euch vorstellen, was die mit euch anstellen, wenn ihr hier wie Bin Laden angezogen rumlauft – und noch dazu mit eurem Koffer voll Rubel. Die werden euch doch für Mitglieder von Al-Qaida halten.

Maurice: Meint ihr…?

Patrick: Bestenfalls landet ihr im Knast und verfault da langsam, bevor sich jemand gnädigerweise mit eurem Fall beschäftigt.

Brigitte: Das ist schon alles ziemlich verwirrend… Da blicke nicht mal ich ganz durch.

Delphine: Dann verbrennen wir einfach alles! Ist ja sowieso nur Schwarzgeld…

Patrick: Aber wenn diese Bande auftaucht und die Kohle zurückhaben will?

Delphine: Noch ist ja keiner gekommen.

Patrick: Die warten vielleicht nur auf einen günstigen Moment.

Brigitte: Vielleicht haben sie gerade Ramadan.

Maurice: Also, was machen wir jetzt?

Patrick: Vielleicht abwarten, ob der Besitzer aufkreuzt?

Maurice: Der Hausbesitzer?

Patrick: Quatsch, der Besitzer von dem Geld!

Brigitte: Die tschetschenische Mafia!

Maurice: Vielleicht habt ihr Recht.… Was meinst du, Delphine?

Delphine (ratlos): Ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht …

Brigitte: Na, dann mach ich noch mal Kaffee.

Patrick: Lass mich machen.

Brigitte: Bist du sicher, dass du das hinkriegst?

Patrick: Na klar, du bist doch im Urlaub! Ruh dich ein bisschen aus.

Patrick verdrückt sich. Die drei anderen bleiben da, in Gedanken versunken. Brigittes Handy klingelt.

Brigitte: Ja? (überrascht) Ich geb sie Ihnen… (Zu Delphine) Für Sie. Ein Typ mit belgischem Akzent… Er hat seinen Namen nicht gesagt, keine Ahnung, wer es ist.

Delphine: Ja? (Ihre Gesichtszüge entgleisen. Die anderen sehen besorgt zu ihr.) In Ordnung. … Nein, nein… Gut… Wir halten uns an Ihre Anweisungen. (Sie gibt Brigitte ihr Handy mit ausdrucksloser Miene zurück. Maurice und Brigitte werfen ihr fragende Blicke zu.)

Delphine: Das waren sie.

Patrick kommt zurück.

Patrick: Spatz, ich kann die Filter nicht finden… (sieht den Gesichtsausdruck der Anderen) Was issn los?

Delphine: Eben hat ein Typ mit komischem Akzent angerufen. Er behauptet, dass er unseren Koffer hat…

Maurice: Ja und?

Delphine: Er schlägt einen Austausch vor…

Brigitte: Einen Geiselaustausch?

Delphine: Einen Kofferaustausch!

Patrick: Wie jetzt?

Delphine: Wir sollen den Koffer auf die Terrasse stellen und ins Haus zurückgehen. Dann kommt dieser Mensch und tauscht den echten gegen den falschen Koffer aus.

Brigitte: Welchen falschen Koffer?

Delphine: Na, unseren!

Maurice: Das ist ja wie in einem schlechten Agentenfilm…

Delphine: Und er hat ausdrücklich gesagt, dass es ohne Zeugen ablaufen soll.

Maurice: Und wieso hat er auf dem Handy von Brigitte angerufen?

Brigitte: Das ist ja nicht das erste Mal, dass man uns verwechselt … Liegt sicher wieder an dieser Homophobie.

Patrick: Ich find, wir machen besser, was die sagen. Die verstehen keinen Spaß, diese Typen.

Delphine: Ohne Zeugen…

Brigitte: Vielleicht bringen die uns sowieso alle um. Wenn sie den Koffer haben. Und alles nur wegen euch!

Maurice: Was können wir denn dafür?

Brigitte: Wir kommen vielleicht nie wieder nach Clichy-sous-Bois…

Patrick: Hey, cool, Kleines. Wir müssen nur tun, was die von uns verlangen, dann geht alles gut über die Bühne, da bin ich sicher.

Brigitte geht hastig auf die Flasche Rotwein zu.

Brigitte: Ich glaub, ich brauch was zur Aufmunterung.

Maurice kommt ihr zuvor und schenkt ihr und sich etwas ein.

Maurice: Ich auch…

Licht aus.

VIERTER AKT

Im Dämmerlicht schleicht ein Mann herein, in Djellaba, mit hochgeschlagener Kapuze, und nimmt den Koffer. Brigitte taucht in seinem Rücken auf und schlägt auf ihn ein. Der Mann bricht zusammen. Das Licht geht wieder an.

Brigitte: Schnell! Kommt her! Ich hab ihn erwischt!

Maurice und Delphine kommen dazu. Der Mann ist bewusstlos. Brigitte schlägt seine Kapuze zurück.

Brigitte: Patrick!?

Delphine: Siehst du, ich hab dir gleich gesagt, dass sie’s waren.

Maurice: Aber warum schlägt ihn dann seine Frau bewusstlos?

Patrick: Ok… Ich wollte nur die Kohle reinholen.

Brigitte: Aber warum hast du mir nichts gesagt?

Patrick: Du hättest womöglich was dagegen gehabt.

Brigitte: Ach was, Patou… Hab ich dir wenigstens nicht zu wehgetan?

Delphine: So ein elender Narr!

Brigitte: Ey, du blöde Kuh, pass auf, was du sagst. So redest du nicht über meinen Mann!

Maurice: Aber wenn der Typ tatsächlich gekommen wäre, um sein Geld zu holen – was hätten wir dann gemacht?

Patrick: Das am Telefon, das war doch ich!

Delphine: Ach soo… Dafür verdient er eine Tracht Prügel. Maurice?!

Patrick: Kannst du ja mal versuchen, Momo.

Maurice: Wir sind zivilisierte Leute, oder? Und wir sind hier in einem Land, das gerade die Demokratie zurückerobert hat. Wir lassen uns doch nicht zu Gewalt hinreißen…

Patrick: Ok, aber unseren Anteil wollen wir trotzdem.

Delphine: Welchen Anteil?

Patrick: Unsere Hälfte. Ansonsten packe ich aus. Wie würdste das finden, „Ali Baba“?

Delphine: Was auspacken?

Maurice: Das erkläre ich dir gleich… Also gut, wir teilen es gerecht auf.

Brigitte: Genau. Wie beim Couscous.

Maurice macht den Koffer auf und sie sehen sich die Banknoten genauer an.

Brigitte: Das ist gar kein Kyrillisch. Das ist Griechisch.

Patrick: Das sind Drachmen!

Delphine: Woher wollen Sie das wissen?

Patrick: Wir waren im Urlaub mal in Griechenland, kurz bevor der Euro eingeführt wurde. Ich erinnere mich genau, wie die Scheine ausgesehen haben. Schauen Sie hier, da ist nämlich das Kolosseum abgebildet.

Delphine: Sie meinen zweifellos das Parthenon…

Brigitte: Was in aller Welt wollen denn russische Mafiosos mit einem Koffer voll Drachmen in Nordafrika…

Patrick: Ist vielleicht Falschgeld?

Delphine: Wer ist so dämlich, falsche Drachmen zehn Jahre nach der Einführung des Euro zu drucken, einen Koffer damit voll zu packen und in den Maghreb zu reisen?

Maurice: Sie haben ja auch einen Koffer voll mit abgelaufenem Dosen-Couscous!

Delphine: Aber die kann man ja vielleicht noch umtauschen.

Brigitte: Nee, seit dem ersten Januar 2012 geht das nicht mehr.

Maurice: Woher wollen Sie das wissen?

Brigitte: Wir haben mal einen alten Geldschein in einem Koffer gefunden und uns erkundigt…

Delphine: Tja, und von so was haben wir jetzt einen Koffer voll…

Patrick: … Und hätten uns gegenseitig fast umgebracht.

Allgemeine Erleichterung.

Brigitte: Und wofür das alles?

Patrick: Für Kohle!

Patrick füllt die Gläser nach.

Patrick: Die nächste Runde geht auf mich. Ein bisschen Entspannung nach der ganzen Aufregung.

Sie stoßen an.

Brigitte: Meine Mutter hat immer zu mir gesagt: Geld macht nicht glücklich.

Delphine: Drachmen jedenfalls nicht. Vor allem, wenn man sie nicht mehr umtauschen kann…

Maurice: Eins steht fest: dieses Geld will niemand zurückhaben.

Brigitte: Ende gut, alles gut, hat meine Mutter immer gesagt.

Schweigen.

Delphine: Na gut, ich ruf beim Konsulat an, in Sachen verlorener Koffer, mal sehen, was die dazu sagen.

Maurice: Die werden uns vorläufige Papiere ausstellen, damit wir nach Frankreich zurückkönnen.

Delphine: Und uns etwas Geld vorstrecken.

Brigitte: Sonst leihen wir euch was.

Patrick: Wie sich’s für Franzosen im Ausland gehört, da muss man zusammenhalten. Und du, Momo, du kriegst jetzt erst mal andere Klamotten zum Anziehen, so verkleidet kannst du nicht länger rumlaufen… und ich auch nicht.

Delphine geht raus zum Telefonieren, Patrick und Maurice gehen sich umziehen.

Brigitte: Gut, dann räum ich ein bisschen auf.

Sie stellt einen Sender im Radio ein.

Radiosprecher. Die Spannungen um den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone nehmen weiter zu. Eine Sitzung…

Brigitte stellt einen anderen Sender ein. Orientalische Musik. Sie räumt weiter auf. Patrick und Maurice erscheinen wieder. Patrick hat dieselben Sachen wie am Anfang an, Maurice ist jetzt ähnlich wie Patrick angezogen, sehr prollig.

Brigitte: Ah, das steht Ihnen gut.

Patrick: Gleich noch einen Roten drauf.

Maurice: Immer zu!

Patrick schenkt wieder ein.

Maurice: Wir müssen nur noch überlegen, was wir mit dem Haus hier machen.

Patrick: Jetzt, wo wir uns kennengelernt haben und uns allmählich anfreunden… Warum machen wir nicht Urlaub zusammen, hä, Momo? Wir kennen uns doch schon seit der Schulzeit, stimmt’s?

Delphine erscheint wieder.

Delphine: So, das wär’s. Ich hab denen unsere Adresse gegeben… (Sie wird auf den Aufzug von Maurice aufmerksam.) Hast du dich umgezogen?

Brigitte: Er sieht gleich ganz anders aus, nicht? Das macht ihn jünger, finden Sie nicht?

Der Alkohol zeigt deutlich Wirkung bei Maurice.

Maurice: Patrick und Brigitte schlagen vor, dass wir den Urlaub zusammen verbringen. Findest du das nicht toll, Liebling?

Delphine (mit gesenkter Stimme): Hör mal, Maurice… Es mag schon sein, dass wir im Umgang mit Leuten aus Fontenay-sous-Bois viel lernen können, aber trotzdem…

Maurice: Aus Clichy-sous-Bois.

Delphine: Ja, schon gut. Ist doch eh alles das Gleiche.

Maurice: Nein. Fontenay ist im Département 94, Clichy-sous-Bois ist im Département 93…

Delphine: Woher weißt du so gut Bescheid?

Maurice: Ich war dort in der Schule. In der Gagarin-Schule. Zusammen mit Patrick. Mo­mo – das bin nämlich ich, Delphine! Und wenn’s dir nicht passt, ist es auch egal!

Delphine: Was? Was redest du da?

Brigitte: Das ist ein Coming-out!

Maurice: Ich hab’s satt. Ich will nicht mehr lügen. Seit wir uns kennen gelernt haben, habe ich alles getan, um dir zu gefallen, um deinen Eltern zu gefallen. Aber jetzt reicht’s.

Delphine: Sag mal, tickst du noch richtig!

Maurice: Ich habe sogar meinen Namen für dich geändert!

Delphine: Du heißt gar nicht Maurice?

Maurice: Ich will zu meinen Wurzeln zurückkehren! Ich will mich mit meinen Vorfahren verbinden!

Delphine: Er hat zu viel getrunken, das ist alles. Und außerdem, lieber Maurice, stammst Du von den Galliern ab!

Maurice: In meinen Adern fließt das Blut eines Beduinen, Delphine! Ich bin ein Wüstenbewohner! Ein Nomade! Ich kann keine Golfplätze mehr ertragen, verstehst du?

Brigitte: Was ist nochmal der Unterschied zwischen einem Beduinen und einem Moslem?

Delphine: Hört nicht auf ihn, er ist total betrunken.

Maurice: In meinem tiefsten Inneren habe ich schon immer gewusst, dass ich dazu bestimmt bin, in einem Zelt, umgeben von Sand, zu leben und nicht in einer Maisonette im 16. Arrondissement.

Delphine: Na schön! Wenn es nur darum geht, machen wir nächstes Mal Camping-Urlaub am Atlantik.

Maurice: Ich bin ein Tuareg, Delphine! Und du hast aus mir … einen Touristen gemacht!

Brigitte, die auch ziemlich angetrunken ist, hält es für angebracht, sich einzumischen, um die Situation zu entspannen.

Brigitte: Wollen wir heute Mittag grillen?

Patrick: Baby, merkst du nicht, dass das gerade nicht der richtige Moment ist… Ich schwör, manchmal fehlt es dir echt an Psychologie, weißt du!

Brigitte: An Psychologie…? Sag bloß, dass ich nix im Kopf hab!

Patrick: Reg dich nicht gleich auf, Baby?

Brigitte: Erstmal bin ich nicht dein Baby! Aber du, wenn du ein echter Mann wärst, würdest du mir eines machen!

Patrick ist betroffen.

Maurice: Nur die Würstchen fehlen noch.

Delphine: Wie bitte?

Maurice: Fürs Grillen!

Delphine: Wir haben ja nicht mal Papier, um den Grill anzuzünden.

Maurice (dreht durch): Wir haben doch die Drachmen! Diese verdammten Drachmen! Die werden wir doch nicht zum Monopoly spielen behalten!

Maurice fängt an, die Banknoten zu zerreißen und in den Grill zu werfen.

Patrick: Wir haben auch Merguez dabei.

Licht aus.

FÜNFTER AKT

Maurice, Delphine, Patrick und Brigitte kommen zusammen vom Pool zurück.

Patrick: Aah, Frische für den ganzen Tag!

Maurice: Ja, und man bekommt den Kopf wieder klar.

Delphine: Den Magen auch… Die Bratwürste waren doch etwas fett, nicht?

Maurice: Ich hab gar nicht gewusst, dass es so was gibt – Bratwürste aus der Dose.

Delphine: Eines muss man sagen, der Swimmingpool ist herrlich.

Brigitte: Los, wir gehen uns umziehen, kommst du, Delphine? Ich gebe dir was zum Anziehen. Ich weiß schon, was dir gut stehen würde…

Beide Frauen gehen ab.

Patrick: Wie hast du es eigentlich geschafft, deiner Frau zu verheimlichen, dass du Moslem bist? Nach allem, was ich gesehen habe, bist du immer noch beschnitten, oder?

Maurice: Ich habe ihr gesagt, dass ich nicht-praktizierender Jude bin. Übrigens: einmal im Jahr faste ich wie ein richtiger Jude, am Jom Kippur.

Patrick: Na, das ist ja schon was…

Schweigen.

Patrick: Lust auf einen kleinen Absacker?

Maurice: Klar!

Patrick nimmt eine Flasche aus der Kühltasche und füllt zwei Gläser. Sie prosten sich zu.

Maurice: Sagenhaft! Was ist das für ein Zeug?

Patrick: Ouzo. Wir haben ein ganzes Lager davon zu Hause. Ich mach mal Musik an, ja?

Patrick schaltet das Radio ein. Er regelt am Empfang herum und stellt einen Sender ein, der orientalische Musik bringt. Nach einer Weile kommen Brigitte und Delphine zurück. Delphine ist jetzt so sexy-vulgär angezogen wie Brigitte.

Patrick: Wow, das steht Ihnen aber gut!

Delphine: Finden Sie? Und Du, was meinst Du, Schatz?

Maurice traut seinen Augen nicht. Die Musik hört auf.

Radiosprecher. Wir unterbrechen unser Musikprogramm für eine aktuelle Sondermeldung. Wie wir soeben erfahren, ist die Drachme seit heute wieder offizielle Währung Griechenlands, nachdem das Land vor wenigen Tagen seinen Austritt aus der Euro-Zone erklärt hat. Vertreter von Politik, Wirtschaft und Börse zeigten sich überrascht von dieser Entwicklung. Über erste Reaktionen auf diese Entscheidung werden wir Sie auf dem Laufenden halten. Alle Reisenden nach Griechenland können ab sofort wieder in Drachmen zahlen – was sicher alle diejenigen unter unseren Zuhörerinnen und Zuhörern erfreuen wird, die noch irgendwo in einer Schublade oder einem Koffer Drachmen gehortet haben…

Maurice: Und wir haben unsere ganzen Drachmen in Flammen aufgehen lassen, um den Grill anzuzünden…

Radiosprecher. Aus Anlass dieses für Europa so folgenreichen Ereignisses senden wir klassische Musik. (Alle Augen richten sich auf den noch rauchenden Grill. Delphines Handy klingelt. Maurice schaltet das Radio aus.)

Delphine: Ja…? In Ordnung!… Gut!…

Sie steckt ihr Handy weg. Die drei anderen hängen an ihren Lippen.

Delphine: Ein Typ vom Konsulat kommt persönlich vorbei, um uns provisorische Reisepässe auszuhändigen.

Maurice: Und?

Delphine: Und den Vuitton-Koffer zu holen. Die suchen den überall seit heute Morgen.

Maurice: Das Konsulat?

Delphine: Der Koffer gehört einem leitenden Beamten vom Außenministerium, der hier seinen Urlaub verbringt.

Maurice: Hier? Der will doch nicht etwa ein Schnäppchen machen?

Delphine: Der ehemalige Justizminister dieses gestürzten Diktators hat ihn zu sich in seinen Palast eingeladen und den will er jetzt bei seiner Kandidatur zur Präsidentschaftswahl unterstützen.

Patrick: Und das alles mit einem Koffer voller Drachmen?

Delphine: Die Griechen haben ja schließlich die Demokratie erfunden.

Maurice: Ja, aber Frankreich hat Vuitton erfunden.

Delphine: … und die versteckte Wahlkampffinanzierung, die den ganzen Charme der Demokratie à la française ausmacht.

Maurice: Haben die sonst noch was gesagt?

Delphine: Sie haben ausdrücklich gesagt, dass wir auf keinen Fall den Koffer aufmachen sollen. Es ist Vuitton-Diplomatengepäck. (In der Ferne hört man ein Polizei-Tatütata.)

Maurice: Ich glaub, jetzt gibt’s Ärger…

Patrick: Wir haben nicht mal ne Gurke, mit der wir die Biege machen können.

Maurice: Wir könnten höchstens auf die Kamele da drüben steigen und in die Wüste verschwinden.

Delphine: Genau! Du wolltest ja den Tuareg wecken, der in dir schlummert.

Maurice: Das letzte Mal bin ich mit acht auf ein Kamel gestiegen. Im Parc Astérix.

Patrick: Und ich in einem Freizeitpark namens Sandmeer.

Das Handy von Brigitte klingelt. Sie nimmt ab.

Brigitte: Ja, bitte…? (Sie deckt mit der Hand das Handy ab.) Es ist der Wohnungsbesitzer. Er fragt, ob soweit alles in Ordnung ist. Was soll ich ihm sagen?

Erneutes Polizei-Tatütata, in der Nähe.

Licht aus.

Ende

Zum Autor

Jean-Pierre Martinez, geboren 1955 in Auvers-sur-Oise bei Paris, hat seine ersten Bühnenerfahrungen als Schlagzeuger verschiedener Rockgruppen gemacht. Nach Studium und eigener Lehre von Text- und Bildsemiotik an sozial- und theaterwissenschaftlichen Hochschulen (Ecole Pratique des Hautes Etudes en Sciences Sociales, EHESS; Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle, CEEA) wurde er in der Werbebranche tätig, verfasste nebenher schon bald Drehbücher für das Fernsehen und kehrte schließlich als Theater-Autor und Dramaturg an die Bühne zurück.

Martinez zählt zu den produktivsten und meistgespielten der heutigen Theater- und TV-Drehbuchautoren Frankreichs und des französisch-sprachigen Auslands. Bis dato hat er an die 100 TV-Drehbücher und mehr als 70 Komödien verfasst, von denen einige zu Klassikern geworden sind (Vendredi 13 oder Strip Poker). In englischer und spanischer Übersetzung werden seine Theaterstücke regelmäßig auf Bühnen in Nord- und Lateinamerika gespielt.

Um seine Komödien interessierten Theatergruppen nahezubringen, hat Martinez sie zum freien Download auf einer eigenen Internet-Plattform eingestellt: La Comédiathèque, comediatheque.net. In Papierform können die Texte über die Webseite The Book Edition bestellt werden (zum Preis der entsprechenden Fotokopien).

Zum Übersetzer

Dr. phil. Hans-Joachim Bopst, Studium von Romanistik, Germanistik und Deutsch als Fremdsprache; nach über 10 Jahren Lehre an französischen Universitäten seit 1992 in der Übersetzerausbildung an der Universität Mainz / Germersheim tätig; Lehre, Forschung, Veröffentlichungen und Übersetzungen zu Tourismus, Sprachwissenschaft, Didaktik; zahlreiche Gastdozenturen, Vorträge und Workshops an in- und ausländischen Universitäten; seit 2016 Übersetzung der Komödien von Jean-Pierre Martinez.

Was ist eigentlich gemeint, wenn man vom „übersetzten Text“ spricht ? – Beide Texte: der Original-Text und der Text, in dem er sich spiegelt…

Grundlage für die deutsche Übersetzung der Stücke von Jean Pierre Martinez waren Übersetzungsübungen, die unter meiner Leitung am Fachbereich Translations-, Sprach und Kulturwissenschaft (FTSK) der Universität Mainz / Germersheim zwischen 2018 und 2020 stattfanden.

Mein Dank für Kreativität, Korrekturen und Tipps an alle beitragenden Studierenden und Kolleg*innen !

Hans-Joachim Bopst

In deutscher Übersetzung liegen folgende Theaterstücke von Jean-Pierre Martinez vor:

Die Touristen

Vier Sterne

Freitag, der 13

Strip Poker

Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez einschließlich der Übersetzungen können gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden:
comediatheque.net

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist nach den Bestimmungen über geistiges Eigentum urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung des Werks – insbesondere die Bühnenaufführung – außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes und ohne Einwilligung von Autor und Übersetzer ist unzulässig und strafbar

und kann zu hohen Schadensersatzansprüchen führen.

Text-Download: kostenlos

Paris / Heidelberg / Germersheim – März 2020

© La Comédi@thèque – ISBN 978-2-37705-403-9

Alle Stücke von Jean-Pierre Martinez einschließlich der Übersetzungen können als pdf-Datei gratis von seiner Webseite heruntergeladen werden oder von ihm als Buch bezogen werden : LA COMÉDIATHÈQUE

Die Touristen Lire la suite »